Internationaler Tag des Waldes: Jeder Baum zählt!

Um Biodiversität wirklich zu schützen, brauchen wir eine ganz neue Vorstellung von Natur. Denn die ist mehr als nur ein Caspar-David-Friedrich-Gemälde. Für mehr wilde Wälder in der Stadt und auf dem Land! Jeder Baum zählt!

Unser Wald. Wer liebt ihn nicht? Besonders in Deutschland ist man ja regelrecht verrückt nach ihm. Ist er nicht wunderbar, unser Wald? Kathedralenhoch grüßt die Buche die vorüberziehenden Abendwolken, denen die untergehende Sonne den Bauch rosa einfärbt. Gen Mitternacht greift die alte Eiche mit ihren knorrigen Ästen nach dem Mond, der mit seinem fahlen Glanz die verborgene Lichtung übergießt. Schau nur, wie geheimnisvoll!

Der inzwischen auch schon 250-jährige Caspar David Friedrich würde sich hier sofort ins feuchte Moos setzen und zur Beruhigung seiner aufgepeitschten Nerven erst einmal ein, zwei Eichendorff-Gedichte lesen. Der Farn kitzelt ihn an den bleichen Waden, ein verwirrtes Rotkehlchen hebt zum Nachtgesang an. Schließlich greift unser Caspar zum Wildschweinborstenpinsel und malt ein Selfie in Rückansicht vor undurchdringlichem Dickicht. Zauberhaft.

Aber manchmal versperrt unsere romantische Vorstellung vom Wald uns eben auch die Sicht auf unsere wahren Schätze. Dann sehen wir den Wald vor lauter Baum-Klischees nicht.

Ein Urwald mitten in der Stadt

So gibt es zum Beispiel in der Millionenmetropole Hamburg eine ganz besondere Rarität: einen echten, funktionierenden Pionierwald im hyperurbanen Stadtteil Wilhelmsburg. Klar, niemand würde im Zentrum dieser dicht besiedelten Elbinsel eine Wald-Idylle vermuten: In der Ferne quietscht die Hafenbahn, drumherum donnert LKW-Verkehr, und auf der angrenzenden Georg-Wilhelm-Straße fahndet der Zoll nach Schmugglern. Aber mittendrin im urbanen Gerumpel und Gerüttel ist ein wahrer Urwald versteckt. Sieht man natürlich nur, wenn man seinen Kopf erst einmal frei gemacht hat von den üblichen Dschungelklischees. Aber schau nur genau hin: Hängen die Äste dort drüben nicht überm Prinz-August-Kanal wie im Amazonas?

In 60 Jahren hat ein Pionierwald nach und nach von der stark verdichteten Stadtfläche Besitz ergriffen
© Stephan Maus

Dieser überaus kostbare städtische Naturraum wird „Wilder Wald“ genannt. Er ist etwa zehn Hektar groß und in den 50er Jahren entstanden. Vorher war dieses Waldgebiet eine Kleingartenanlage. In der Wohnungsnot der Nachkriegszeit wurden damals auf der Fläche viele Behelfsheime errichtet. Dann kam in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 die Große Flut. Ein Hamburger Trauma. Und da das Gebiet tiefer liegt als die umliegende, aufgeschüttete Nachbarschaft, ertranken hier besonders viele Menschen in ihren improvisierten Bauten. Ihre Unterkünfte hatten kein zweites Stockwerk, in das sie sich retten konnten.

Nach der Großen Flut lag die Fläche durchgehend brach. Und dann kam die Natur und hat allen gezeigt, was sie wirklich kann. Heute ist der Wilde Wald ein besonders schönes Beispiel für einen dichten Pionier- und Sukzessionswald mit Auwald-Anteilen. Es ist der einzige Wald im gesamten Bezirk Hamburg-Mitte. Hier wachsen Pappeln, Weiden, Erlen, Birken und Eschen. Der Specht hämmert im Totholz, bitte nicht so laut, schließlich schlafen hier noch Fledermäuse (fünf unterschiedliche Arten!). Ein Eisvogel blitzt vorüber und stürzt sich kopfüber in den Ernst-August-Kanal, um einen Fisch zu erbeuten.

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Wer durch diese städtische Wildnis spaziert, bekommt sofort eine Vorstellung davon, welche Kraft Natur entfalten kann, wenn man sie einfach mal in Ruhe machen lässt. Und was könnte tröstlicher sein in heutigen Zeiten als eine solche Erfahrung?

Weil der Mensch aber das dümmste aller Tiere ist, droht dem Wilden Wald nun die Rodung. Auf dem Areal und in der Nachbarschaft soll das neue Spreehafenviertel entstehen: 1100 Wohnungen und Gewerbe.

Bäume gegen die Flut

Während sich andere Metropolen Gedanken darüber machen, wie sie sich zur Schwammstadt umbauen können, um in Zeiten des Klimawandels überhaupt zu überleben, versiegelt Hamburg munter weiter Flächen. Dass dies nun gerade in einem Gebiet passieren soll, wo zahlreiche Menschen bei einer Jahrhundertflut ertranken, ist besonders grotesk. Denn wenn uns überhaupt irgendetwas vor kommenden Fluten schützt, dann sind das Bäume.

Deswegen hat sich früh Protest gegen die geplante Rodung geregt. Heute wird der Wilde Wald von Aktivisten besetzt. Sie haben ein Baumhaus errichtet, um Fällungen zu verhindern. Im Januar übergab der NABU 20.000 Unterschriften gegen die Rodung des Wilden Waldes.

Die Hafennähe ist im Wilden Wald in Wilhelmsburg deutlich zu spüren
© Stephan Maus

Die Stadt ist bislang der Auffassung, dieser Wald sei eigentlich nicht wirklich schützenswert. Schließlich kommen hochoffizielle Gutachter zu dem Schluss, dass der Wilde Wald gar nicht so interessant sei. Da stehen doch nur vulgäre Allerweltgehölze herum, dazwischen ein bisschen Unkraut. So Zeug findet sich doch auf jedem stillgelegten Bahngleis. Was die Natur in Deutschland aus eigener Kraft hervorbringt, kann ja schließlich nicht so wertvoll sein. Außerdem ist das banale Grünzeug ja erst 60 Jahre alt. Da kann man es doch eigentlich auch gleich abholzen. Nicht, dass es nachher noch 200 Jahre alt wird und irgendwann geschützt werden muss. Wo sollen wir dann expandieren?

Als Ersatz für zerstörte Biotope werden meist irgendwo anders irgendwelche Ausgleichsflächen schaffen. Egal wo. Im Falle des Wilden Waldes 40 Kilometer außerhalb von Hamburg. Soll der Eisvogel halt googlen, wo er demnächst seinen Matjes aus dem Ernst-August-Kanal verspeisen kann.

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Solches Vorgehen ist grotesk: Man zerstört mutwillig natürlich gewachsene Flächen, schüttet irgendwo Mutterboden aus dem Großhandel an, verbuddelt ein paar trendige Klimahölzer und verteilt drumherum zwei Schubkarren Mulch, den man liebevoll aus den zuvor woanders gerodeten Bäumen geschreddert hat. Man hat den Eindruck, Natur wird vom Menschen erst dann wirklich respektiert, wenn er sie eigenhändig irgendwo hingepflanzt hat. Was Natur selbst kann, interessiert uns nicht so richtig.

Ein Appell zum Tag des Waldes

Solche Vorstellungen sind fatal. Wir sollten beginnen zu verstehen, dass ein Wald nicht unbedingt aussehen muss wie von Caspar David Friedrich gemalt, damit er schützenswert ist. Ein Baum muss nicht erst auf irgendeiner Artenschutzliste stehen, damit er nicht gefällt wird. Wir müssen begreifen, dass jede Pflanze und jeder Baum an sich schützenswert sind. Und wenn sie sich aus eigener Kraft zu einem vielfältigen Naturraum entwickelt haben, sind sie gleich doppelt schützenswert.

Deswegen sollten wir am heutigen Tag des Waldes nicht nur den urigen Eichenhain ehren, sondern vor allem das spontan gewachsene Weidengestrüpp auf der Brache hinter der Billig-Tankstelle, die tapferen Birken-Pioniere, die aus den still gelegten Gleisanlagen sprießen und all die anderen wilden Wälder – in Wilhelmsburg und anderswo.

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