Anthropozän: Klimaforscher streiten: Beginnt jetzt ein neues Erdzeitalter?

Mit dem Holozän beschreiben Geologen die Warmphase nach der Eiszeit. Wegen des Klimawandels will eine Forschergruppe jetzt ein neues Erdzeitalter ausrufen. Doch internationale Experten hadern.

In der Erdgeschichte bildet das Kapitel der Menschheit ein Seufzer. Und es dauerte einen Wimpernschlag, um den Planeten an den Rande des Ruin zu drängen: Die Landwirtschaft belastet Böden und Gewässer. In Meeren, Seen und Flüssen dümpelt Mikroplastik. Chemikalien lassen sich mittlerweile fast überall in der Natur nachweisen. Der Mensch trocknet Moore, begradigt Flüsse, rodet Wälder und trägt Berge ab, auf der Suche nach Rohstoffen. Der Umweltzerstörung fallen Flora und Fauna zum Opfer, während unter dem steigenden CO2-Gehalt in der Atmosphäre das Gleichgewicht von Temperatur und Jahreszeiten aus dem Ruder gerät.

Um die 200 Jahre hat der Mensch gebraucht, um die Erde nachhaltig und teilweise unwiederbringlich zu zerstören. Der Klimawandel ist menschengemacht, sind sich Forscher einig. Strittig bleibt derweil die Frage, ob die Erdgeschichte deshalb einen neuen Epochennamen verdient.PAID Klimawandel und Extremwetterereignisse 2023 6.13

Zuletzt viel diskutiert: das Anthropozän. Mit dem Konzept wollte der niederländische Forscher und Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen bereits Anfang der 2000er den massiven Einfluss des Menschen auf den Planeten beschreiben. In seinem viel beachteten Aufsatz in der Fachzeitschrift „Nature“ bezeichnete er den Menschen als „Umweltmacht“ für die kommenden Jahrtausende. Als Hauptargument nannte der Wissenschaftler damals den steigenden CO2-Anstieg in der Atmosphäre, der mittels Eisbohrkernen bis in die Zeit der der Dampfmaschine zurückzuverfolgen ist. Beim Startpunkt für das Anthropozän legte Crutzen sich daher auf die Industrialisierung fest – auch wenn seine Vorgänger anmerkten, dass der Mensch die Erdoberfläche bereits vor mindestens 10.000 Jahren durch die beginnende Viehzucht und den Ackerbau massiv beeinflusst habe.

Die große Streitfrage: Wann begann das Anthropozän?

In den jüngeren Debatten um eine neue geologische Epoche geht es genau um diese Frage. Der 2022 verstorbene Crutzen kann seine Argumente allerdings nicht mehr einbringen. An seine Stelle macht sich heute die internationale Anthropozän-Forschungsgruppe zusammen mit der Max-Planck-Gesellschaft dafür stark, dass das Anthropozän als neues geologisches Zeitalter wissenschaftlich anerkannt wird. Mit ihrem Vorstoß sind die Forscher Anfang März allerdings vorerst gescheitert. Ein Expertengremium der Fachgesellschaft International Union of Geological Sciences (IUGS) hat sich mehrheitlich dagegen ausgesprochen.

Die Gründe dafür wurden öffentlich zwar nicht genannt, doch in einem Bericht der „New York Times“ räumten Mitglieder des Gremiums ein, dass sich manche Wissenschaftler mit dem Zeitpunkt schwergetan hätten, ab dem das noch laufende Holozän abgelöst werden sollte.

Die Anthropozän-Forschungsgruppe datiert den Start der neuen Epoche auf die Mitte des 20. Jahrhunderts und belegt ihre Entscheidung mit Plutonium-Isotopen aus oberirdischen Atomwaffentests, die seitdem weltweit entdeckt wurden. Denn um wirklich von einem neuen Erdzeitalter sprechen zu können, muss der menschliche Einfluss auf den Planeten auch in allen Ecken der Welt nachgewiesen werden können. Aschepartikel aus der Erdöl- und Kohleverbrennung lassen sich zumindest für das 19. Jahrhundert jedoch überwiegend in Europa und den USA feststellen, weil sich dort die Industrialisierung abspielte. Nun also Atomüberreste.„Beispiellose Veränderungen“ im Wattenmeer17.29

Spricht der Klimawandel allein für ein neues Erdzeitalter?

Für die Argumentation der Forscher mag diese Nachricht nützlich sein. Für den Planeten selbst ist sie es sicher nicht. Wissenschaftler rätseln, ob es auf der Welt überhaupt noch vom Menschen unberührte Orte gibt. Wenig spricht dafür. Selbst im Pine-Island-Gletscher in der Antarktis fand sich Plutonium, das bei Atomtests in tausenden Kilometern Entfernung freigesetzt wurde. Aber das sind nicht die einzigen Spuren, die der Mensch zuletzt hinterließ.

Mikroplastik und Kunststoffe wurden auf den höchsten Gipfen und in den tiefsten Meeren nachgewiesen; Ewigkeitschemikalien finden sich nicht mehr nur in beschichteten Bratpfannen oder wetterfester Kleidung, sondern reichern sich zunehmend in der Natur an.

Die Masse an Technik-Schrott dürfte Schätzungen zufolge bereits die Masse aller Lebewesen auf der Erde übersteigen – und als Technik-Fossilien künftigen Forschern Aufschluss über den technologischen Fortschritt geben.Invasive Arten in Deutschland 15.15

Durch die Massentierhaltung gerät das Gleichgewicht der Arten weltweit aus den Fugen: Schätzungen zufolge machen Menschen 34 Prozent der Biomasse aller Landsäugetiere aus, Nutztiere bilden 62 Prozent, während der Anteil der Wildtiere an der Gesamtmasse auf vier Prozent geschrumpft ist.

Das untrüglichste aller Zeichen für ein neues Erdzeitalter dürfte aber wohl der stetig steigende Gehalt von Kohlenstoff und weiterer Treibhausgase in der Atmosphäre sein. Die Menschheit verbrauchte seit 1950 mehr Energie als in den vorangegangenen 11.700 Jahren des Holozäns.

Die Debatte ist noch nicht zu Ende

Angesichts dessen scheint es verwunderlich, dass sich das Gremium der IUGS einem neuen Epochennamen gegenüber verschließt. Doch die Forscher dürften ihre Gründe haben. Einer davon: Das Holozän markiert eine übergeordnete Warmphase nach einer längeren Eiszeit. Forscher sprechen von Glazialen (Kälteperioden) und Interglazialen (Warmphasen), die sich seit Beginn der Erdgeschichte abwechseln. Innerhalb dieser Kalt- und Warmphasen gibt es wiederum Temperaturschwankungen, die sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg erstrecken. Möglich, dass der derzeitige Temperaturanstieg ebenfalls eine erdgeschichtlich kurze Phase markiert.

Darauf verweist Phil Gibbard, Generalsekretär der Internationalen Kommission für Stratigraphie: „Die Bedingungen, die zur Gletscherbildung führen, haben sich nicht geändert, deshalb könnten wir erwarten, dass das Holozän nur ein Zwischenstadium (zwischen zwei Mini-Eiszeiten) ist“, sagte er im Podcast „Geology Bites“ im vergangenen Jahr. Ihm zufolge könnte es noch 50 Millionen Jahre so weitergehen. Das Anthropozän sei dann nur ein „Ereignis“ in der Erdgeschichte, das eben einige tausend Jahre dauere.PAID Erwärmung der Ozeane 20.56

Verfechter des Anthropozäns halten entgegen, dass das Holozän zur Blüte der Menschheit geführt habe. Das sei heute aber nicht mehr der Fall. Ohne eine formelle Anerkennung des Begriffs Anthropozän bliebe dieser Eindruck allerdings bestehen.

Für die Anthropozän-Forschungsgruppe ist das Thema noch nicht beendet. Die Debatte dürfte künftig immer wieder geführt werden – mindestens so lange, bis der Klimawandel umgekehrt wird. Und das dürfte, je nach gesellschaftlichem und politischem Engagement, noch mindestens hundert Jahre dauern.

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