Urstromtal: Sanddüne mitten in Berlin – warum hier 70 gesunde Bäume für den Naturschutz gefällt wurden

Dass Naturschutz auch eine destruktive Seite haben kann, hat einige Helfer der Düne Wedding zuerst überrascht. Warum sie dennoch mitmachen und regelmäßig Pflanzen rauszupfen.

„Papa, das Moos ist so weich“, sagt Leon*, 5, und streicht mit seinen kleinen Fingern darüber. „Kannst dir gern einen Eimer holen, und das alles einsammeln“, sagt sein Papa Christopher Hartl, 37. „Können wir Fangen spielen?“ – „Erst, wenn wir fertig sind mit der Arbeit.“ Leon schiebt etwas die Unterlippe vor, doch er versteht, dass es nötig ist.

Leon streichelt das Moos
© Gerrit-Freya Klebe / stern

Die Düne Wedding ist die einzige ihrer Art. Und sie muss gepflegt werden. Innerstädtische Binnendünen aus der Eiszeit gibt es sonst nirgendwo in Deutschland. Sie ist ein Portal in die Vergangenheit. In die Zeit vor über zehntausend Jahren, damals, als Berlin noch keine Stadt, sondern ein Urstromtal war, umgeben von Endmoränen und dickem Eis. Heute ist das schwer vorstellbar. Doch die Düne Wedding erinnert ihre Besucher daran. 

Leon wollte eigentlich seinen Kuschelelefanten Edgar mitbringen. Doch der Sand ist so fein, dass er überall kleben bleibt. Edgar müsste dann in die Waschmaschine, und davor hat er Angst, sagt Leon. 

Christopher Hartl mit seinem Sohn Simon
© Gerrit-Freya Klebe / stern

Durch den Sand liefen einst Wisente und grasten auf dem nährstoffarmen Boden. Heute sind noch gut 3800 Quadratmeter übrig geblieben. Und Ehrenamtliche vom NABU Berlin übernehmen die Rolle der Wisente, wenn man so will. Sie zupfen unerwünschte Pflanzen weg oder reißen ganze Grasbüschel aus, damit die Düne ihr typisches Aussehen behält.

Christopher Hartl ist von Anfang an dabei. Für ihn hat die Düne sein Leben verändert. Er hat dort seine Frau kennengelernt, vier Jahre älter ist sie als er. Nun spielt ihr gemeinsames Kind auf der Düne, lernt so die Natur kennen und welche Pflanzen essbar sind. Die Düne Wedding vor der Rodung der Bäume
© Margit Salzmann / NABU Berlin

Bäume fällen für den Naturschutz – warum ist das nötig?

Spitzblättriger Spitzwegerich etwa hat ein ähnliches Aroma wie Pilze, auf der Düne wächst es zuhauf. Giersch ist gut im Salat oder als Pesto, Tellerkraut passt in den Wildkräutersalat. 

Für die kleine Familie ist es wie ein Wochenend-Trip. Mitten in Berlin, im Stadtteil Wedding, ist ein Stück Meeresgefühl versteckt. Kiefern wiegen im Wind, der sandige Boden knirscht unter den Füßen. Und das wenige Schritte von der U-Bahn-Station entfernt.

Christopher Hartl lehnt an einer Kiefer
© Gerrit-Freya Klebe / stern

Nur Moos ist hier nicht erwünscht. Moos speichert Feuchtigkeit, doch typisch für Dünen ist das Trockene. Vor elf Jahren haben Hartl und Team angefangen mit dem Renaturieren. Seitdem wurden 70 Bäume gefällt. Mit schwerem Gerät wurde hier angerückt, mit der Stubbenfräse die Wurzeln ausgehoben, bis zu 20 Zentimeter tief. Kein unerwünschter Baum sollte hier jemals wieder wachsen.

Dass Naturschutz auch destruktiv sein kann, hat Sonja, 31, zuerst gewundert. Sie dachte, man würde jede einzelne Pflanze schützen. Dann hat die angehende Juristin gelernt: Es ist das große Ganze, um das es geht. Die Düne. Und die bedeutet für Sonja: Ankommen. 

Ihre Eltern haben mit ihr in verschiedenen Ländern gelebt, sie waren Auslandskorrespondenten in Afrika, in Südeuropa. In Spanien ist Sonja zur Schule gegangen, erst spät nach Berlin gezogen. Sie will sich lieber mit der Erde in ihrer Heimat beschäftigen. Sie, die ewig Fernreisende, will endlich an einem Ort ankommen, und das gelingt am besten im Lokalen. 

Die Düne Wedding ist ein Portal in die Vergangenheit

Sonja trägt schwarze Gartenhandschuhe, reißt büschelweise Gras aus. Christopher Hartl habe ihr gesagt, sie soll nicht die pinke Blume ausreißen. Der Name Karthäusernelke will ihr nicht gleich einfallen. „Jetzt hab ich ewig drumherum gebuddelt und sie nun doch ausgerissen. So’n Mist, das ist alles so verwachsen hier. Sorry, arme pinke Blume.“ Sonja, 31, jätet Unkraut
© Gerrit-Freya Klebe / stern

Barbara hingegen kennt jedes Gewächs hier beim Namen. Sie ist schon lange dabei, seit über zehn Jahren pflegt sie die Düne. Ihr Highlight gab es vor ein paar Jahren. Da hat sie die ersten zarten Sauerampfer-Pflänzchen entdeckt, zuerst sind die nur an einer Stelle aufgetaucht. 

Doch sie hat gleich die Nahrungskette weitergedacht. Der Sauerampfer ist die Futterpflanze vom Kleinen Feuerfalter. Wenig später wurde der erste gesichtet.

Mit den anderen spricht sie über das Weichtier des Jahres, den Bierschnegel, „richtig coole Tiere sind das“ und dass sie abends mit der Taschenlampe Schnecken von ihren Balkonpflanzen absammelt, wenn nötig. Barbara hat Medizin studiert, arbeitet als Ärztin für Psychiatrie.

Barbara möchte weder ihr Alter noch ihren Nachnamen verraten
© Gerrit-Freya Klebe / stern

Die Pflege der Düne ist ein bisschen wie die Arbeit mit Patienten, sagt sie. Belohnungsaufschub heißt das in der Fachsprache. Auch viele Patienten machen nur langsam kleine Fortschritte. Gerade ist Barbara in einem Sabbatjahr, ihre Praxis hat sie abgegeben, will danach neu anfangen. Die Zeit nutzt sie dafür, um in verschiedenen Ehrenämtern zu arbeiten. 

Freiwillige pflegen die Düne in Berlin

Ihren Lebensstil beschreibt sie als einfach und nachhaltig, als langsam und bewusst. Mit ihren Nachbarn teilt sie sich Gegenstände, die sie nur selten nutzt. Regelmäßig rettet sie Lebensmittel. Ein Smartphone hat sie sich nur gekauft, damit sie ihr Online-Banking weiterhin nutzen kann, den Rest der Zeit liegt es ungenutzt in der Schublade ihres Nachttisches. 

Auch ihren Patienten habe sie diese Einstellung empfohlen. Einmal, da war einer ihrer Patienten niedergeschlagen, weil seine Kreuzfahrt während der Corona-Pandemie abgesagt wurde. Da hat sie entgegnet: Die Natur freut sich. Machen Sie doch lieber Urlaub im Spreewald!

Ronald Kroth ist seit über zehn Jahren dabei
© Gerrit-Freya Klebe / stern

Auch für Ronald Kroth, 58, ist die Düne Wedding eine Konstante im Leben. Seit zehn Jahren pflegt er sie. Der Elektroingenieur sagt, es sei kein Sprint, sondern ein Marathon. Er habe hier gelernt, sich über kleine Erfolge zu freuen. 

Wenn man hundert kleine Pflänzchen gesetzt habe, im nächsten Jahr aber nur zwei davon wiederkommen, könne man sich über die 98 ärgern. Oder über die zwei freuen, die es geschafft haben. Oder über Spinnennetze, in denen Regentropfen glitzern.

Wenn Heuschrecken, Wildbienen und Schmetterlinge die Düne für sich als Lebensraum entdecken, macht das viel wett bei Kroth. Auch den Muskelkater in Händen und Armen. Und den hat er öfter, wenn er besonders stark verwurzelte Pflanzen ausgerissen hat.

Ein Weißling auf einer Sand-Grasnelke
© Gerrit-Freya Klebe / stern

Für ihre Pfleger ist die Düne Wedding über die Zeit zu mehr als einem Renaturierungsprojekt geworden. Wenn es stürmisch war, macht sich Christopher Hartl Sorgen, ob die Kiefern auf der Düne noch stehen. Wenn es im Sommer zu trocken war, musste die Düne schon gewässert werden. Hartl, der eigentlich Software-Entwickler ist, liest nachts Bücher über die Eiszeit und Pflanzenarten, wenn er nicht schlafen kann. 

Für die Helfer ist die Düne mehr als Projekt zur Renaturierung

Auf der Düne kann er Zeit in der Natur mit seinem Sohn verbringen, kann ihm alles erklären. Kann über die Vergangenheit und Zukunft nachdenken. Denn der Boden hier ist alt, so alt, dass er einen ehrfürchtig zurücklässt. 

Dass der Klimawandel hier seine Spuren hinterlässt oder dass die Fläche doch noch zur Bebauung freigegeben wird, darum sorgen sich ihre Pfleger. Sie würden diesen Ort verteidigen, wenn es nötig würde. Neue Pflanzen und Insekten sorgen für gute Laune – und für Gesprächsstoff
© Gerrit-Freya Klebe / stern

„Papa, da ist ein Stein“, ruft Leon und freut sich. Dann entdeckt er eine Pflanze. „Papa, soll ich das auch abmachen?“ 
„Nein“, sagt Christopher Hartl. „Das ist der Mauerpfeffer, der blüht gelb im Sommer. Den wollen wir behalten.“ 

Am Anfang wollte Leon noch jede bunte Blüte abzupfen, doch er hat gelernt. Die Nachmittage auf der Düne Wedding haben ihm viel beigebracht.

*Leon heißt eigentlich anders, zu seinem Schutz möchte sein Vater nicht seinen richtigen Namen in der Öffentlichkeit lesen.

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