Fahrradindustrie: Ausverkauf am Radmarkt: „Alle sind nervös und checken ständig Preise“

Erstmals wurden mehr E-Bikes als normale Räder verkauft, doch das reißt die Fahrrad-Branche nicht aus dem Tief. Unternehmerin Susanne Puello über die Krise und Gründe zur Hoffnung.

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Susanne Puello ist eine der bekanntesten Figuren der deutschen Fahrradwelt und stammt aus einer Zweirad-Dynastie. Ihr Urgroßvater war Gründer des Herstellers Winora, den Puello zwanzig Jahre lang leitete. 2017 stieg sie aus dem Familienunternehmen aus, gründete mit ihrem Mann ein eigenes Unternehmen – und schlüpfte später unter das Dach des österreichischen Pierer-Konzerns. Im Herbst sind die Puellos mit ihrer Marke R Raymon im eigenen Unternehmen neu gestartet.

Capital: Frau Puello, für den Neubeginn haben Sie sich einen schwierigen Zeitpunkt ausgesucht: Nach den Boomjahren der Pandemie steckt die Fahrradbranche in der Krise. Die Lager sind übervoll, die Preise im Keller, die Insolvenzen häufen sich. Wieso wagen Sie es trotzdem?
Weil wir an die Branche glauben, auch wenn sie im Moment tatsächlich gebeutelt ist. Es war klar, dass mein Mann und ich Ende 2023 aus dem Pierer-Konzern ausscheiden würden. Als sich die Möglichkeit ergab, die Marke herauszukaufen, die wir über sechs Jahre aufgebaut hatten, haben wir nicht lange gefackelt. Es kommen manchmal Chancen, die sich nicht aufschieben lassen.

Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) hat jüngst die Zahlen für 2023 vorgestellt und sich um ein positives Bild bemüht. Tatsächlich ist der Markt jedoch eingebrochen. Wie schätzen Sie die Lage ein? 
Die Zeiten sind schwierig – alles andere zu behaupten wäre falsch. Sie sind aber auch deshalb so schwierig, weil wir schon vor der Pandemie ein extremes Wachstum hatten. Dann kam Corona und alle wollten plötzlich mit Fahrrädern mobil sein. Gleichzeitig haben sich die Lieferzeiten dramatisch verlängert. Selbst Herstellern, die in Europa produzieren, half das nur bedingt, da die Lieferanten im Teile-Bereich in Asien sitzen. Ein Jahr kam also fast nichts an – und im Folgejahr dann eine Überlieferung mit den aufgelaufenen Rückständen.

Die Unternehmen saßen also plötzlich auf der doppelten Bestellmenge?
Genau, das war im Krisenjahr 2023, in dem mehrere unglückliche Umstände zusammenkamen. Es ist bekannt, in welcher schwierigen wirtschaftlichen Situation wir uns befinden. Der Krieg in der Ukraine, die hohen Energiepreise, die Inflation. Das hat den Konsum eingedampft. Nicht zu vergessen die Personalnot an allen Orten. Das Wichtigste ist, dass sich jetzt die Preise wieder stabilisieren.

Die Kunden freut es: Derzeit findet bei Fahrrädern ein regelrechter Ausverkauf mit starken Preisnachlässen statt. 
Das betrifft den ganzen Markt, natürlich auch uns. Wir können es ja auch gar nicht verhindern. Wir haben Tausende Händler, die stehen auch unter Druck und wir können das nicht kontrollieren. Alle sind nervös und checken ständig im Netz die Preise. Teilweise sind sie um die Hälfte reduziert. Das ist natürlich sehr schwierig, in so einer Lieferkette haben dann alle gelitten. Unsere Räder liegen im Moment im Verkauf rund 25 Prozent unter den Normalpreisen.

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Ist für die Branche baldige Besserung in Sicht?
Ich denke, wir werden 2025 wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen. Wir werden durch das Schlimmste durch sein und uns als gesamte Branche wieder um Innovation kümmern können. Allerdings habe ich dabei gerade die große Weltlage außer Acht gelassen. Die können wir natürlich nicht beeinflussen.

Wie sehr sorgt Sie die?
Sehr. Ich bin eigentlich ein positiver Mensch und erkenne mich manchmal im Moment selbst nicht wieder. Ich mache mir riesige Sorgen um dieses Land und um Europa. Wegen der politischen Lage, der Bewegung hin zur Autokratie und weg von Demokratie in der westlichen Welt, dem Krieg in der Ukraine, dem Nahen Osten. Ich sehe die Wirtschaft im Moment nicht mehr stark genug, das alles abzufedern. Und in Deutschland verlieren wir unsere Wettbewerbsfähigkeit durch zu viel Bürokratie und zu hohe Steuern. Das ist nur mein persönlicher Blick auf die große Weltbühne. Für uns als Branche bewahre ich mir trotzdem meinen Optimismus.

Worauf basiert der angesichts dieses düsteren Bildes?
Die Leute wollen weiter Fahrrad fahren. Das Interesse ist nicht verloren. Ich glaube einfach an das Produkt Fahrrad, und auch rein sachlich läuft doch alles darauf hinaus: Es geht um Gesundheitsaspekte, um Nachhaltigkeit, um moderne Mobilität in verstopften Städten. Da wird das Fahrrad seine Stellung eher noch ausbauen. Durch Leasingmodelle sind auch E-Bikes leistbar.

Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland erstmals mehr E-Bikes als normale Räder verkauft. Sie gelten als Pionierin des E-Mountainbikes und haben 2010 unter der Marke Haibike das erste offroadtaugliche Rad mit Elektromotor vorgestellt. War die Entwicklung damals absehbar?
Nichts anderes habe ich erwartet. Niemand hat das Thema E-Mountainbike damals ernst genommen. Elektrisches Rad stand für „Oma, Friedhof, Gießkanne“. Heute ist dieses Bild raus aus den Köpfen, sportliche E-Bikes sind nicht mehr wegzudenken aus dem Straßenbild. Und wenn ich sehe, wie 16- und 17-jährige junge Mädels und Männer hier auf E-Bikes mit geschwellter Brust durch die Stadt fahren, muss ich sagen: Es macht mich sehr glücklich.

Sie sprachen eben von Innovationen. Was wird da kommen?
Wetterschutz ist mein Lieblingsthema seit 30 Jahren. Ich kann nicht beantworten, wie die Lösung aussehen wird, aber es wird sie geben. Da muss dringend etwas passieren. Erst zwängen wir uns den Helm auf und die Haare sind im Eimer. Wenn wir dann auch noch tropfnass ankommen, ist das schwierig. Ich glaube, dass es in Zukunft Möglichkeiten geben wird, wie wir einen Wetterschutz über den Kopf bekommen, kombiniert mit einem Airbag. Und auch für die Sicherheitsaspekte beim Fahrrad brauchen wir noch viele Innovationen.

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