Presseschau: „Wenn Deutschland verteidigungsfähig werden soll, darf eine Wehrpflicht kein Tabu sein“

Scholz als Friedenskanzler – funktioniert das in Zeiten, in denen auch in Europa ein Krieg tobt? Das kann nicht gut gehen, schon gar nicht wenn die Bundeswehr dabei kaputtgespart wird, urteilt die deutsche Presse.

Die Wehrbeauftragte des Bundestags hat der Bundeswehr ein kritisches Zeugnis ausgestellt – Fortschritten zum Trotz. „Die Bundeswehr hat immer noch von Allem zu wenig“, sagte Eva Högl (SPD) am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung ihres Jahresberichts 2023.

„Es braucht bestens aufgestellte Streitkräfte für glaubhafte Abschreckung und wirksame Verteidigung“, mahnte sie. Es fehle „an Munition, Ersatzteilen, Funkgeräten, Panzern, Schiffen und Flugzeugen.“ Zwar kämen die Bestellungen auch mit Hilfe des Bundeswehr-Sondervermögens langsam bei der Truppe an. Beim Personal habe sich die Lage im vergangenen Jahr aber noch verschlechtert. Ende 2023 gab es ihrem Bericht zufolge 181.514 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr – 1537 weniger als 2022. Es gebe weniger neue Bewerbungen und die Abbrecherquote bei den Rekrutinnen und Rekruten bleibe hoch. Auch der Frauenanteil bleibe zu gering. Insgesamt gelte: „Die Bundeswehr altert und schrumpft.“

Die Reaktionen auf den Bericht der Wehrbeauftragten fielen unterschiedlich aus. CDU-Politiker riefen nach einer stärkeren Abschreckung, um Russland in die Schranken zu weisen. Auch die Grünen forderten mehr Investitionen. FDP und SPD äußerten sich dagegen zurückhaltend – anders dagegen die Presse. Die Stimmen im Überblick:STERN PAID 52_23 Deutschland Verteidigung18.00

Wo bleibt die Zeitenwende bei der Bundeswehr?

„OM-Medien“: „Wer sich mit dem neuesten Bericht der Wehrbeauftragten befasst, fühlt sich unweigerlich an Bill Murray erinnert. In dem Film ‚Und täglich grüßt das Murmeltier‘ durchlebte der Schauspieler 1993 denselben Tag immer und immer wieder. Genau so mahnen die Wehrbeauftragten seit Jahren mehr Geld, besseres Material, schnellere Prozesse, eine höhere Wertschätzung und eine bessere Infrastruktur an. Insofern birgt der Jahresbericht keine Überraschungen. Genau das aber ist eine Überraschung, denn im zweiten Jahr der von Olaf Scholz ausgerufenen militärischen Zeitenwende hatte man sich durchaus mehr erhofft. Niemand wird erwarten, dass die Probleme der Bundeswehr in nur zwei Jahren und mit 100 Milliarden Euro behoben werden können. Wie aber sieht der Weg in die Zukunft aus? Wir haben uns nach dem Kalten Krieg daran gewöhnt, die Bundeswehr als notwendiges Übel für ineffiziente Auslandseinsätze zu sehen. Damit ist es spätestens seit Februar 2022 vorbei.“

„Augsburger Allgemeine“: „In einem Land, das generell die Instandhaltung seiner Infrastruktur vernachlässigt hat, wurde die Armee besonders gründlich kaputtgespart. Nun zeigt sich, dass sich Versäumnisse aus Jahrzehnten nicht so einfach in wenigen Jahren korrigieren lassen. Zeitenwenden werden plötzlich nötig, doch es dauert, sie umzusetzen. Immerhin, ein Aufwärtstrend ist spürbar. Die eklatanten Ausrüstungsmängel scheinen weitgehend behoben. (…) Soldaten haben es verdient, in einem intakten Umfeld ihren potenziell lebensgefährlichen Dienst zu leisten. Es ist furchtbar, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer funktionierenden Bundeswehr erst unter dem Ukraine-Schock zurückgekehrt ist.“

„Märkische Oderzeitung“: „Natürlich lässt sich eine Armee samt großem und kleinem Gerät nicht von heute auf morgen auf Vordermann bringen. Aber in Wahrheit hat das Umsteuern bei der Truppe ja nicht erst mit der Bundestagsrede von Kanzler Olaf Scholz im Februar 2022 begonnen. Die Trendwenden Material und Personal wurden vor mittlerweile fast einem Jahrzehnt ausgerufen – Mehrausgaben inklusive. Die Bundeswehr muss nun dringend beweisen, dass sie mit dem vielen Geld, das die Steuerzahler bereitstellen, auch Wirkung erzielen kann. Anderenfalls dürften sich nicht mehr viele finden, die nach Aufbrauchen von hundert Milliarden Euro Sondervermögen weitere Riesenbeträge nachschießen wollen.“Bundeswehr Bericht

„Die Glocke“: „Eine Zeitenwende wird auch bei der personellen Ausstattung der Bundeswehr stattfinden müssen. Da auf herkömmlichem Weg bislang nicht genug Soldaten angeworben werden können, ist die Einführung einer Dienstpflicht unausweichlich. Würde sich Deutschland am schwedischen Modell orientieren, müsste nicht zwangsläufig ein ganzer Jahrgang rekrutiert werden, sondern zunächst diejenigen, die Interesse haben und geeignet sind. Wichtig ist, dass sich die Parlamentarier dieser Debatte nicht verschließen. Wenn Deutschland verteidigungsfähig werden soll, darf eine Wehrpflicht kein Tabu sein.“

Schlechtes Zeugnis für Pistorius und Scholz

„Frankfurter Rundschau“: „Das Ernüchternde am Bericht der Wehrbeauftragten Eva Högl ist weniger die Liste der Mängel, die seit Jahren bekannt sind. Vielmehr enttäuscht das geringe Tempo, mit dem die Defizite trotz der Zeitenwende angegangen werden. So gesehen ist der Bericht auch ein schlechtes Zeugnis für Verteidigungsminister Boris Pistorius und Kanzler Olaf Scholz, der die marode Truppe in eine Stütze der europäischen Verteidigung umwandeln will. Doch trotz des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro fehlt es weiter an allem. Noch mehr Geld alleine wird die Reform nicht beschleunigen. Pistorius muss die teils dsyfunkionale Bürokratie auf Vordermann bringen – nicht nur im Beschaffungswesen. Er wird auch einen Weg finden müssen, mehr Nachwuchs zu rekrutieren. Schweden könnte Vorbild sein, doch die Wehrpflicht light ist politisch hierzulande kaum umsetzbar. Natürlich kann die Ampel jahrzehntelange Versäumnisse nicht mit einem Fingerschnippen wettmachen. Doch inzwischen sind es Probleme der Regierung Scholz.“

„Reutlinger General-Anzeiger“: „Die SPD war früher die Partei, die sich für die Bundeswehr und das Wohl der Soldaten eingesetzt hat. Sie versucht dieses Bild zu erhalten. Doch in Wirklichkeit scheint eher eine stark linksorientierte SPD-Fraktion, den Kurs zu bestimmen. Die Genossen versuchen, Scholz mit Blick auf die Kommunal- und Europawahl als Friedenskanzler zu positionieren und sparen bei der Bundeswehr. Damit wollen sie Grünen-Wähler zurückgewinnen. Menschen, denen die einstige Friedenspartei zu laut nach noch mehr Waffen für die Ukraine ruft.“

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