stern-Chefredakteur: Gregor Peter Schmitz über Friedrich Merz‘ „Operation Kanzleramt“ und den aktuellen stern

Friedrich Merz stehe mit anderthalb Beinen im Kanzleramt, schreibt Gregor Peter Schmitz. Der stern-Chefredakteur über die Ambitionen des CDU-Chefs – und MeToo im Europaparlament. 

Journalismus gilt mitunter als die erste „Fassung der Geschichte“. Diese erste Version muss nicht immer stimmen, auch wenn wir selbstbewussten Journalisten das gern annehmen. Vor einigen Monaten hatten wir Friedrich Merz auf dem stern-Titel, die Zeile lautete: „Friedrich der Falsche“. Damals hatte er gerade so leichtfertig über die AfD geredet, dass Parteifreunden vor jedem neuen Merz-Interview schauderte. Wenig später war der CDU-Chef wieder auf dem stern-Cover, nun mit einer Zahnlückenach seiner seltsamen Aussage, Asylbewerber bekämen sofort Zahnarzttermine, während Deutsche warten müssten. Dieser Mann als Kanzler? Schwer vorstellbar.

STERN PAID 11_24 Friedrich Merz Titel

Doch Merz‘ „Operation Kanzleramt“ ist nicht mehr aussichtslos, sie wird getragen vom desaströsen Erscheinungsbild der Ampelkoalition und von steigenden Umfragewerten, auch weil sich der CDU-Chef die Kritik zu Herzen zu nehmen scheint. Er wirkt ruhiger, entspannter, disziplinierter. Meine Kollegen Nico Fried und Veit Medick, die ihn seit Jahren begleiten, beschreiben die Entwicklung so: „Merz hat die CDU hinter sich geeint, nicht vollständig, aber ausreichend. Jeder in der Partei wäre froh, wenn sich bei der Kanzlerkandidatur ein politisches Blutbad wie 2021 vermeiden ließe. Merz ist ein Profiteur der Verhältnisse, nicht unwiderstehlich, aber unvermeidlich. Ihm reicht das.“

Friedrich Merz neigt weiterhin Unberechenbarkeit

Nun also „Friedrich der Unvermeidliche“? So weit ist es noch lange nicht. Merz neigt weiterhin zu Impulsivität und Unberechenbarkeit, die CDU muss die Wahlen im Osten bestehen und ihr Verhältnis zu Angela Merkel klären. Dennoch steht Friedrich Merz mit anderthalb Beinen im Kanzleramt.

Friedrich Merz auf dem Cover des stern im Juli 2023
© Henning Kretschmer/Agentur Focus

Und wieder Merz auf dem Cover des stern, dieses Mal im Oktober 2023

In der SPD sieht man diese Entwicklung auch. Sicherheitshalber scheinen ihre Strategen Kanzler Olaf Scholz nun als „Friedenskanzler“ etablieren zu wollen, vielleicht weil es einem SPD-Vorgänger, Gerhard Schröder, 2003 einen Popularitätsschub gegeben hat, sich gegen den amerikanischen Irakkrieg zu positionieren. Ich habe Schröders Haltung in ihrer Opportunität damals nicht geteilt, aber es war zumindest eine klare und klar kommunizierte Haltung. Scholzs Ukraine-Kurs hingegen ist oft nur zu erahnen, so diffus ist seine Kommunikation dazu. Auch wenn Deutschland mittlerweile der zweitgrößte Waffenlieferant ist, wirkt Scholz oft, als sage er erst mal zu allem Nein, bis er nicht mehr Nein sagen kann. Wenn seine Strategen dieses Hin und Her als möglichen Wahlkampfturbo ansehen, müssen sie ziemlich nervös sein.

Der Fall Gallée – #MeToo im Europaparlament

Das Europaparlament in Brüssel war nicht immer bedeutend, aber es war stets ein fröhlicher Ort des Austausches. Partys, auch Partnerschaften gehörten dazu. Und Politiker waren oft mittendrin. Auch Malte Gallée, 30 Jahre alt und Mitglied der Grünen, war kein Europaabgeordneter, der mit tranigen Reden langweilte. Er plauderte in Videos locker über Müllverordnungen oder die Gefahren des Klimawandels und teilte sie unter dem Namen „polit.pilot“ auf Tiktok, 50.000 Menschen folgten seinem Kanal. Gallée hatte begriffen, wie die sozialen Medien funktionieren. Offenbar begriff er aber nicht, wo Grenzen verlaufen. Die Recherche meiner Kollegen Charlotte Wirth und Nicolas Büchse erzählt von einem Polittalent, das diese Grenzen offenbar überschritt. Von Vorwürfen sexueller Belästigung, die ausgerechnet bei den Grünen lange niemand ernst zu nehmen schien – bis der stern Fragen stellte und Malte Gallée daraufhin seinen Rücktritt verkündete. Mehr als ein Dutzend Mitarbeiter und Assistentinnen hatten sich dem Reporterteam anvertraut. Daraus ergibt sich ein Bild, dass eine Partei, die sich als politische Verbündete der #MeToo-Bewegung begreift, ein Klima der Angst am Arbeitsplatz geduldet und Betroffene sogar unter Druck gesetzt haben soll.

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