Bei den Tarifverhandlungen von Verdi und GDL geht es unter anderem um 12,5 Prozent mehr Lohn. Damit soll auch die zuletzt hohe Inflation ausgeglichen werden.
Deutschland ist in Streiklaune: Die Lokführerinnen und Lokführer der Deutschen Bahn sind in einen 35-Stunden-Streik getreten, auch das Lufthansa-Bodenpersonal probt den Ausstand, genauso wie das Sicherheitspersonal an den Flughäfen Frankfurt und Hamburg. Bald wollen auch die Lufthansa-Flugbegleiter der Gewerkschaft UFO folgen. Reisende kommen am Donnerstag und Freitag kaum noch weg und wenn, dann nur zu horrenden Preisen über alternative Anbieter wie Flixtrain oder Mietwagenfirmen. Ist all das gerechtfertigt – und die Forderungen der Streikenden angemessen?
In beiden Fällen – bei der Bahn und Lufthansa – geht es im Kern um Forderungen nach 12,5 Prozent mehr Lohn. Diese Erhöhung und noch einige andere Punkte wollen sowohl die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) als auch Verdi für ihre Beschäftigten durchsetzen.
Angesichts der Tarifabschlüsse aus dem vergangenen Jahr scheint diese Hausnummer dem neuen Normal zu entsprechen. So erreichte die Eisenbahnergewerkschaft EVG eine Tariferhöhung von im Schnitt 14,5 Prozent, bei der Deutschen Post waren es 15 Prozent Plus. In der Eisen- und Stahlindustrie wurde eine Einigung über 5,5 Prozent mehr Geld erzielt.
Generell schlossen die Gewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB – zu denen neben Verdi und IG Metall auch die EVG gehört – neue Tarifverträge für rund 6,3 Millionen Beschäftigte ab. Dazu traten 2023 für weitere 9,2 Millionen Beschäftigte Lohnerhöhungen aus früheren Tarifabschlüssen in Kraft. Außerdem gab es jeweils Einmalzahlungen und tabellenwirksame Festbetragserhöhungen.
Eine wichtige Begründung der Arbeitnehmerseite war dabei immer, dass die Verdienste durch die Inflation deutlich an Wert verloren und Real- und Nominallöhne sich klar auseinander bewegt haben. Aber wirklich so viel?
Schaut man auf die Lohnentwicklung der vergangenen Jahre, erscheinen die saftigen Forderungen von 12,5 Prozent mehr Lohn zwar in Teilen gerechtfertigt, doch eine eindeutige Bewertung ist schwierig:
Reallöhne auf Niveau von 2016
Denn erst seit dem vergangenen Jahr stiegen die Reallöhne erstmals seit 2019 wieder, wenn auch nur um 0,1 Prozent. Das gibt das Statistische Bundesamt an. Zuvor hatten Kurzarbeit und Inflation einen Lohnanstieg gänzlich ausgebremst und auch jetzt frisst die Inflation noch den Großteil der durchschnittlichen Lohnerhöhung auf: Einschließlich Sonderzahlungen stieg der Nominallohnindex 2023 um sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr und damit so stark wie seit 2008 nicht mehr. Doch auch die Verbraucherpreise lagen höher: bei 5,9 Prozent.
Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung kommt für tarifvertraglich vereinbarte Reallöhne ohne Berücksichtigung der Inflationsausgleichsprämien indes auf einen Rückgang von 0,4 Prozent. Die Inflationsprämien haben aber wohl bei vielen noch für eine leicht positive Tendenz gesorgt. So lagen sie beim Bahn-EVG-Abschluss etwa bei 2850 Euro und bei der Post bei einmalig 1500 Euro plus zehn weiteren Zahlungen in Höhe von 150 Euro.
„Es ist ein wichtiger Schritt, dass die Kaufkraft der Tarifbeschäftigten 2023 im Mittel weitgehend gesichert werden konnte,“ sagt Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs. „Um jedoch auch die massiven Reallohnverluste der beiden Vorjahre ausgleichen zu können, sind in den kommenden Tarifrunden kräftige Reallohnsteigerungen notwendig.“
Aufgrund von Kurzarbeit und der hohen Inflation entwickelte sich der Reallohn von 2020 bis 2022 negativ
© Statistisches Bundesamt
Denn nach einem kontinuierlichen Anstieg der Reallöhne in den 2010er Jahren lagen die durchschnittlichen Löhne der Tarifbeschäftigten im Jahr 2020 preisbereinigt um 21 Prozent höher als 2000, rechnet das WSI vor. 2021 und 2022 seien die realen Tariflöhne durch die Preisschocks dann aber wieder um sechs Prozentpunkte gesunken, so dass sie heute nur noch auf dem Niveau des Jahres 2016 liegen. Ob eine Forderung von 12,5 Prozent mehr Lohn nun angemessen sei oder nicht, ließe sich aber nicht wissenschaftlich seriös sagen, teilt das WSI auf Anfrage mit.
Besonders kräftige Anstiege in Niedriglohnbranchen
Zuletzt sind die Tariflöhne zwischen 4,4 und 7,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen und generell ging es mit den Tarifen in den vergangenen zwanzig Jahren immer nur nach oben. Die Deutsche Bahn gibt sogar an, dass Gehälter im Geltungsbereich der GDL-Tarifverträge seit 2014 um 21 Prozent gestiegen seien. Allerdings war die Inflation bis vor einigen Jahren auch nie so hoch wie zuletzt. Im Jahr 2016, auf dessen Niveau dem WSI zufolge die aktuellen Löhne liegen, war die Inflation gegenüber dem Vorjahr beispielsweise bei nur 0,5 Prozent. Im Sommer 2023 lag sie bei über sechs Prozent.
Erhöhung der Tariflöhne 2023 in ausgewählten Branchen (Angaben in Prozent gegenüber dem Vorjahr)
© WSI Tarifarchiv
Diese Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie treffen Haushalte mit niedrigen Einkommen in der Regel am härtesten. Berufe in Niedriglohnbranchen profitierten daher zuletzt auch überdurchschnittlich von den Tariferhöhungen, vor allem vor dem Hintergrund der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns von 9,19 Euro im Jahr 2019 auf nun 12 Euro. Am meisten stiegen die Löhne mit zehn Prozent in der Landwirtschaft und 9,5 Prozent im Gastgewerbe.
So sind niedrige Lohngruppen besonders von pauschalen Inflationsausgleichsprämien begünstigt – auch wenn diese Einmalzahlungen die Lohnentwicklung langfristig dämpfen würden, schreibt das WSI. „Zum anderen wurden in vielen Tarifabschlüssen prozentuale Lohnerhöhungen mit festen Mindestbeträgen kombiniert, von denen Beschäftigte mit geringem Einkommen ebenfalls besonders profitieren“, heißt es weiter.
Lokführer liegen mit ihrem Gehalt knapp unterhalb dem deutschen Durchschnitt von rund 56.000 Euro Bruttoverdienst im Jahr. Fachkräfte bei Post- und Zustelldiensten verdienen laut Statistischem Bundesamt gut 20 Prozent weniger als Fachkräfte in der Gesamtwirtschaft. Oben in der Tabelle stehen Piloten mit knapp 130.000 Euro Jahresverdienst.
Bei seiner Analyse der Verdienste von Vollzeitbeschäftigten stellte das Statistische Bundesamt ebenfalls fest: Das Fünftel mit den geringsten Verdiensten verzeichnete 2023 das größte Plus mit 11,4 Prozent nominal, das mittlere Fünftel kommt auf 5,8 Prozent und das oberste Fünftel nur noch auf 4,6 Prozent – bei hohen und mittleren Einkommen bleibt demnach nach Abzug der Inflation von 2023 kein Plus übrig, etwa bei Piloten und Lokführern.
Mit den Tarifen ging es bergauf, aber die Reallöhne schrumpften in den vergangenen Jahren
© Verdi
Die GDL schloss mit der Deutschen Bahn zuletzt 2021 einen Tarifvertrag mit 32 Monaten Laufzeit. Dabei handelte sie eine Erhöhung von 3,3 Prozent in zwei Stufen aus. Dazu erhielten alle Beschäftigten eine Corona-Beihilfe.
„Nachholbedarf“ in kommenden Tarifrunden
Gewerkschaften wie Verdi kommt es bei ihren Verhandlungen darauf an, dass am Ende auch tatsächlich etwas von der Lohnerhöhung übrig bleibt. Verdi verweist auf Capital-Anfrage daher auf den sogenannten verteilungsneutralen Spielraum, der bei einem neuen Tarifvertrag mindestens ausgeschöpft werden müsse. Dabei würden Produktivität und Qualitätsentwicklung zusammengerechnet, „um den Beschäftigten nicht nur einen Reallohnausgleich, sondern ihren gleichbleibenden Anteil am Volkseinkommen zu sichern“.
In den Jahren 2021 und 2022 seien die nach dieser verteilungspolitischen Maßgabe notwendigen Entgelterhöhungen nur teilweise durchgesetzt worden, so dass sich die Verteilungssituation der Beschäftigten verschlechtert habe. Für die kommenden Tarifrunden bestehe nun Nachholbedarf.
Aktuell in Verhandlungen befindet sich unter anderem der Einzelhandel. Von Arbeitgeberseite liegt ein Angebot unter anderem für eine Erhöhung um sechs und später um weitere vier Prozent auf dem Tisch. Das bedeute für die Beschäftigten aber einen Reallohnverlust und sei daher „nicht abschlussfähig“, sagt Verdi.
Nach Einschätzung des WSI ist das Jahr 2024 rein quantitativ betrachtet ein „Schwergewicht“, da Vergütungstarifverträge für zwöf Millionen Beschäftigte auslaufen, unter anderem in der Metall- und Elektroindustrie, in der Chemischen Industrie und bei der Deutschen Telekom. Bei dieser haben die letzten regulären Lohnabschlüsse in Zeiten vor der hohen Inflation stattgefunden. Tarifexperte Schulten rechnet für 2024 mit einer „offensiven Tarifrunde“ und auch mit weiteren Streiks.