Nach Abhör-Affäre: Boris Pistorius in Schweden – der Skandal reist mit

Auf seiner Skandinavien-Reise wollte sich Verteidigungsminister Boris Pistorius Tipps für die Reform der Bundeswehr einholen. Stattdessen stellen die Schweden plötzlich unangenehme Fragen danach, ob man Deutschlands noch trauen kann.

Er hatte den Skandal eigentlich in Berlin lassen wollen. Doch der ist einfach mitgereist.

Dienstagnachmittag in Schloss Karlberg, der schwedischen Offizierhochschule und der ältesten Militärakademie der Welt: Gemeinsam mit seinem schwedischen Kollegen Pål Jonson stellt sich Boris Pistorius den Fragen der Presse. Es geht um die erfolgreiche Wiedereinführung der Wehrpflicht in Schweden, um eine intensivierte militärische Zusammenarbeit beider Länder – aber auch um den Vorfall, der dem Verteidigungsminister seit dem Wochenende keine Ruhe mehr lässt: das Leak eines von Russland abgehörten Gesprächs mit hochrangigen deutschen Militärs, in dem es um den Einsatz von Taurus-Marschflugkörpern in der Ukraine geht. 

Ob man aus dem Gespräch folgern könne, dass Deutschland Taurus-Marschflugkörper in die Ukraine senden werde, will eine schwedische Journalistin wissen. 

Boris Pistorius hat sich eine Erklärung zurecht gelegt

„Nein“, sagt Pistorius schnell. Weder der Kanzler noch er planten dies. Beim abgehörten Gespräch handele es sich lediglich um einen Austausch „unter professionellen Experten“. Pistorius hat sich eine Erklärung zurechtgelegt. Dass man das alles aufklären werde, es sich aber offenkundig um einen „individuellen Anwendungsfehler“ handele. Dass dies ein Beispiel dafür sei, wie Wladimir Putin mit hybrider Kriegsführung Deutschland spalten wolle. Und dass es eben keine hundertprozentige Sicherheit gebe, er aber keinerlei Verärgerung bei seinen ausländischen Partnern angesichts des Vorfalls festgestellt habe.

Das soll beruhigend klingen. Shit happens. Spionage happens. Und schuld ist Putin, der Feind des Westens.Gastbeitrag Masala17.52

Doch so leicht lässt die schwedische Presse den deutschen Minister nicht davon kommen. Als baldiger Nato-Partner habe man in Schweden doch Fragen, legt ein schwedischer Journalist nach: „Ist Deutschland immer noch verlässlich?“ Da muss Pistorius kurz schlucken, bevor er antwortet: „Natürlich ist Deutschland noch verlässlich.“ 

Die Dinge geraten außer Kontrolle

Schon am Morgen hatte er sich der Presse gestellt, allerdings der deutschen. Zu einem Zeitpunkt, als der Verteidigungsminister eigentlich schon im Militärtransporter A400M auf dem Weg nach Stockholm sitzen wollte. Stattdessen hatte er sich kurzfristig für den Auftritt entschieden. Wegen der „dynamischen Lage“. So heißt es im Militärjargon, wenn potenziell unkontrollierbare Dinge passieren. 

Und dynamisch ist die Lage in der Tat, seit der russische Propagandasender am Freitag und für jedermann im Internet nachhörbar ein vertrauliches Gespräch öffentlich gemacht hat.

Beim Auftritt in Berlin wirkt Pistorius genervt, aber auch entschlossen. Als erstes will er den Eindruck korrigieren, als wären seine hochrangigen Militärs die Deppen der Nation. Männer, die sich tölpelhaft von Russland abhören ließen.

„Ein individueller Anwendungsfehler“

Nein, das Problem des abgehörten Gesprächs sei nicht die Nutzung des Anbieters WebEx gewesen, sagt Pistorius in Berlin. Sondern, dass einer der Teilnehmer sich über eine unsichere Verbindung in einem Hotel in Singapur eingewählt habe. 

Aber warum dort Informationen diskutiert werden, die wohl nicht mehr in die Kategorie „VS-NFD“ (Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch) fallen, der einzigen Klassifizierung, die bei der Bundeswehr die Nutzung von Webex gestattet, bleibt offen. Ob dies der Fall sei, müsse man erstmal prüfen, sagt Pistorius.

Dann steigt er in den Flieger. Auch das soll ein Stück Normalität signalisieren.

FS: Pistorius 100 Tage im Amt   15.45

In Schweden will sich der Verteidigungsminister über das dortige Wehrpflichtmodell informieren und prüfen, ob es ein Vorbild für Deutschland sein könnte. Es soll darum gehen, wie die Bundeswehr wieder so fit gemacht werden kann, dass sie einen Angriff der Russen oder eines anderen Gegners gegen sich oder einen Nato-Partner abwehren könnte. 

Seit dem Aussetzen der Wehrpflicht im März 2011 herrscht akuter Personalmangel in der Bundeswehr. Rund 181.000 Soldatinnen und Soldaten zählt sie derzeit, bis 2031 soll sie etwa 200.000 Mann und Frau stark sein. Doch momentan ist sie eher vom Schrumpfen bedroht. 

Einfach die alte Wehrpflicht wieder aktivieren, dürfte schwierig werden. Strukturell, rechtlich, politisch. Pistorius liebäugelt deshalb mit einer anderen Lösung, dem schwedischen Modell.

Ein Fragebogen für alle 18-Jährigen

Das skandinavische Land hatte seine Wehrpflicht („Värnplikt“) 2010 abgeschafft, angesichts der Nachwuchsnot aber bereits 2017 ein abgewandeltes Modell eingeführt. Alle 18-Jährigen, rund 100.000 pro Jahr, Männer und Frauen, erhalten seither einen Musterungsbescheid in Form eines Fragebogens, auf dem Fitness, Vorstrafen und die Bereitschaft, dem Land zu dienen, abgefragt werden. Knapp jeder Dritte wird tatsächlich gemustert. Aus dem Kreis jener, die für tauglich für den Wehrdienst befunden werden, wird noch einmal ausgewählt. Etwa zehn Prozent sind es so von jedem Jahrgang, die für den Grundwehrdienst eingezogen werden, der zwischen neun und 15 Monaten dauert.

Wie das in der Praxis abläuft, lernt Pistorius bei einem Besuch der Musterungsbehörde „Pliktverket“ in Stockholm, einer von dreien im ganzen Land. Hier erfährt er, dass die neue Wehrpflicht von der Bevölkerung gut angenommen wird. Dabei ist sie keinesfalls freiwillig, wie in Deutschland oft kommuniziert. Nur war es bislang so, dass nur aus der Gruppe jener rekrutiert wurde, die auch ihre Bereitschaft bekundet hatte. In diesem Jahr sollen nun erstmals auch junge Menschen einberufen werden, die nicht zur Armee wollen. Wer sich dem Prozess verweigert, dem droht eine Strafe.

Er habe „ein Faible für das schwedische Modell“, sagt Pistorius mehrfach bei seinem Besuch. Festlegen will er sich noch nicht. Eins zu eins übertragen lässt es sich ohnehin nicht. In Deutschland wäre dafür eine Grundgesetzänderung nötig. Auch würden die bisherigen Strukturen nicht ausreichen, um die große Zahl der Rekruten, die durch eine Jahrgangsmusterung entstünden, aufzunehmen. 

Nach Ostern will Pistorius das Resultat seiner Überlegungen der Öffentlichkeit vorstellen und dann eine Debatte führen. STERN PAID 52_23 Deutschland Verteidigung18.00

„Werde nicht meine besten Offiziere opfern“

Doch auch der Abhörskandal dürfte Pistorius noch eine ganze Weile begleiten. Nicht zuletzt, weil einer der Teilnehmer des abgehörten Gesprächs, Ingo Gerhartz, ab 2025 Befehlshaber an der Spitze des Nato-Hauptquartiers im niederländischen Brunssum werden soll. Ein militärischer Top-Posten für den 57-Jährigen, der in seinem jetzigen Amt als Inspekteur der Luftwaffe bisher einen tadellosen Ruf genoss.

Nun laufen „disziplinarische Vorermittlungen“ gegen ihn, wie gegen alle Beteiligten des Leaks. Sollte diese Personalie in Gefahr geraten, würde dies das Image Deutschlands weiter beschädigen. Und damit auch Pistorius.

Er werde „sicher nicht meine besten Offiziere für Putins Spielchen opfern“, hatte Pistorius am Morgen vor dem Abflug nach Schweden auf die Frage gesagt, ob es personelle Konsequenzen wegen des Abhörskandals geben werde. Aber er hatte zur Vorsicht einen Halbsatz vorangeschickt: „Wenn nicht doch noch Schlimmeres herauskommt.“

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