Frank Werneke: Verdi-Chef über die Streikwelle: „Natürlich ist das individuell doof, wenn ein Urlaubsflug ausfällt“

Wird heute eigentlich mehr gestreikt als früher? Der Verdi-Chef Frank Werneke über ein neues Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer, Drohbriefe an seine Verhandlungsführer und die AfD als Arbeitgeber.

Herr Werneke, täuscht der Eindruck oder wird heute mehr gestreikt als früher?
Bei unseren Streiks im vergangenen Jahr waren deutlich mehr Menschen beteiligt. Da waren unter anderem die gesamte Breite des öffentlichen Dienstes, der Handel und die Deutsche Post in Arbeitskämpfe einbezogen. Aber der Eindruck entsteht sicherlich dadurch, dass im Moment besonders die Verkehrsbereiche betroffen sind. Erst die Deutsche Bahn, die von der GDL bestreikt wurde, dann die verschiedenen Luftfahrtauseinandersetzungen und nun der Nahverkehr. Dass sich das jetzt alles im Januar und Februar ballt, merken die Menschen natürlich.

In ganz vielen Bereichen wird nach Fachkräften gesucht. Warum muss überhaupt gestreikt werden – Angebot und Nachfrage müssten das mit den Löhnen doch automatisch regeln?
Ich gestehe gerne zu, dass es durchaus schon mal schlechtere Ausgangsbedingungen gegeben hat. Der Arbeitskräftemangel ist eine Hilfe in Tarifverhandlungen. Nehmen wir beispielsweise die Lufthansa und ihre Beschäftigten im Bodenbereich. Der Arbeitgeber Lufthansa hat sie immer als „fünftes Rad am Wagen“ behandelt mit deutlich schlechteren Arbeitsbedingungen, weil die Bodenbeschäftigten zum Teil leichter ersetzbar waren als Kabinenmitarbeiter. In der Vergangenheit ist es nur schwer gelungen, mit den Bodenbeschäftigten einen Streik zu organisieren, der auch den Luftverkehr lahmgelegt hat. Das hat sich grundlegend geändert: Jetzt gibt es einen Mangel an Bodenpersonal und ein – auch dadurch – deutlich gesteigertes Selbstbewusstsein. Es kann also wirksam gestreikt werden. Die Lufthansa muss das erst mal verarbeiten. 

„Die Kommunen bekommen immer mehr Kosten aufgebürdet“

Auch im Nahverkehr werden die Fahrpläne ausgedünnt, weil Busfahrerinnen und -fahrer fehlen.
Ja, den Mangel bestreitet niemand. Dort steht auf der anderen Seite allerdings kein finanzstarker Konzern, sondern die Kommunen, denen durch die Bundesregierung immer neue Belastungen aufgebürdet werden. Beim Streit um den Haushalt hat die Ampelkoalition die Mittel für den ÖPNV sogar noch mal reduziert. Deshalb sind das auch alles andere als leichtgängige Tarifverhandlungen. Aber wir haben einen ersten Tarifabschluss im Saarland und ich bin optimistisch, dass weitere folgen werden.

01: Bus und Bahnbeschäftigte gehen gemeinsam mit Klimaschützern auf die Straßen – 1e1f30720a30b4d2

Offenbar haben viele Menschen das Gefühl, sie können in der Gewerkschaft mehr für sich rausholen als mit individuellen Verhandlungen. Ihre Mitgliederzahlen steigen enorm. Wie erklären Sie sich das?
Das hängt mit der Tarifpolitik zusammen. Wir hatten letztes Jahr 190.000 Eintritte und ein Nettoplus von 41.000 Neumitgliedern. Und in den Wochen, in denen wir um gute Verhandlungsergebnisse gekämpft haben, sind auch die meisten Menschen eingetreten. Durch die Inflation gab es einen enormen Kaufkraftverlust, deswegen war es für viele eine Notwendigkeit, dass wir viel rausholen in den Tarifrunden. Aber das, was Sie vorher beschrieben haben, stimmt schon: Durch die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt gibt es ein neues Selbstbewusstsein der Arbeitnehmer und wir organisieren das erfolgreich.

„Ein bisschen nerven ist bei Streiks unvermeidbar“

Auf der einen Seite wachsen die Mitgliederzahlen, auf der anderen sind viele Menschen ziemlich genervt vom Streik. Wie bekommen Sie das mit?
Die Leute schreiben uns natürlich E-Mails oder rufen an. Ich will das auch nicht klein machen: Natürlich ist das individuell doof, wenn ein Urlaubsflug ausfällt oder der Weg zur Arbeit deutlich erschwert ist. Insgesamt würde ich aber nicht sagen, dass die Beschwerden mehr werden. Ich erlebe eher eine deutliche Unterstützung. Aber ein bisschen nerven ist unvermeidlich. Wir sind halt in Kitas, Krankenhäusern, Nahverkehr, Abfallwirtschaft und dem Luftverkehr aktiv. Wann immer wir dort streiken, hat das viel mehr Auswirkungen auf Bürgerinnen und Bürger, als wenn ein Automobilwerk bestreikt wird.

Im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung stand ja nun sogar, dass die Streiks die konjunkturelle Erholung verlangsamen. 
Das ist wirklich Unsinn. Die Ursache für die aktuelle Konjunkturschwäche sind vor allem fehlende Investitionen. Wir haben allein im kommunalen Bereich einen Investitionsstau von 140 Milliarden Euro, der nicht wirklich angegangen wird und der zunehmend kritisch ist für den Wirtschaftsstandort. Und wir haben auch deshalb eine problematische Entwicklung in Deutschland, weil bei uns unterm Strich die Lohnentwicklung schlechter ist als in anderen Ländern. Unsere Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst, bei der Post, im Flughafenbereich und der Energiewirtschaft, sind ganz ordentlich. Aber das ist natürlich nur ein Teil der Bevölkerung, der davon profitiert. Insgesamt gab es in den vergangenen zwei Jahren einen massiven Kaufkraftverlust, der zu Konsumschwäche führt. Dass es überhaupt Bereiche mit einer guten Lohnentwicklung gibt, hat eben viel mit unseren Arbeitskämpfen zu tun.

Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigen, dass so langsam doch die Arbeitslosigkeit steigt – trotz des weiter beklagten Personalmangels. Machen Sie sich Sorgen, dass Arbeitslosigkeit wieder zu einem größeren Problem wird – und damit auch die neue Macht der Arbeitnehmer schwächelt?
Das kann schon einen Einfluss haben. Wobei man sich die Zahlen genauer anschauen muss. Die Arbeitslosigkeit steigt insbesondere in den Bereichen, in denen Strukturumbrüche stattfinden. Das trifft vor allem den industriellen Bereich, aber auch Branchen im Dienstleistungssektor etwa im stationären Einzelhandel. Dort gibt es stellenweise Arbeitsplatzverluste infolge von Insolvenzen z.B. von Schuhhäusern oder im Textil-Einzelhandel. Gleichzeitig gibt es aber mehrere 10.000 unbesetzte Stellen im Einzelhandel. Das generelle Problem: Es funktioniert nicht, Arbeitsplatzbedarfe und -verluste so zu organisieren, dass Menschen, wenn sie ihren Job beim Autozulieferer verlieren, plötzlich Busfahrer werden. Das hat viel mit Lohnunterschieden zu tun.

Nicht eher mit Qualifikationen?
Das natürlich auch, aber das ließe sich ja lösen. Vor allem sind die Arbeitsbedingungen und die Löhne so viel schlechter im Nahverkehr als in den Branchen, in denen jetzt Arbeitsplätze wegfallen, dass dieser Wechsel nur in Ausnahmen stattfinden wird. Aber insgesamt kann ich für die privaten Dienstleistungsbranchen und den öffentlichen Dienst feststellen, dass ein Ende des Fach- und Arbeitskräftemangels nicht absehbar ist. 

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In den vergangenen Monaten ist der Hass auf progressive Parteien, Vorhaben und Proteste ja deutlich aggressiver geworden. Bekommen Sie das als Gewerkschafter auch zu spüren? 
Das Klima insgesamt wird rauer, allein schon in den Sozialen Medien sehen wir das. Für Menschen, die vor Ort besonders sichtbar sind, also Verhandlungsführerinnen und Verhandlungsführer von Gewerkschaften, nimmt zum Teil die Bedrohungslage zu, die bekommen Drohbriefe. Ich will da gar nicht weinerlich sein, weil es eben eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist, von der wir nicht ausgenommen sind. Aber es hat das alles in dem Maß früher nicht gegeben. Wo es erforderlich erscheint, sind wir mit der Kriminalpolizei in Kontakt, um die konkrete Gefahr einzuschätzen.

„Immer wieder persönliche Bedrohungen und Angriffe“

Geht es so weit, dass Sie Demonstrationen absagen müssen?
Glücklicherweise nicht. Man weiß nie, was noch passiert. Aber wenn ich das vergleiche mit den Anschlägen, die es auch auf Abgeordnetenbüros gibt, mit den Attacken insbesondere gegen die Grünen, dann erleben wir das erfreulicherweise nicht in der Heftigkeit; zumindest dann, wenn es nur um Streiks geht. Viele unserer Kolleginnen und Kollegen sind ja auch in Netzwerken gegen Rechts, gegen die AfD und gegen Pegida aktiv. Das ist dann schon ein ganz hartes Feld der Auseinandersetzung, wo es auch immer wieder persönliche Bedrohungen und Angriffe gibt. Wir sind in manchen Regionen die einzige Organisation, die noch in der Breite vertreten ist. Im Osten sind wir die größte Gewerkschaft und haben Strukturen vor Ort. 

Wie blicken Sie auf die Landtagswahlen dort, die im Herbst anstehen?
Mit Sorge. Wenn sich auch nur ansatzweise die Meinungsumfragen bestätigen, bedroht das die politische Stabilität. Für uns hat das noch mal eine besondere Komponente. Denn für unsere Mitglieder im öffentlichen Dienst könnte das bedeuten, dass die AfD ihr Arbeitgeber wird – als Bürgermeister oder Landrat. Das ist eine ganz besondere Situation, von der ich auch noch gar nicht bis ins Letzte weiß, wie wir damit umgehen werden. Wir sind natürlich im engen Austausch mit den Personalräten in Landkreisen, wo die Gefahr droht, dass Antidemokraten Wahlen gewinnen und versuchen, sie darauf vorzubereiten, zu unterstützen und ein Netzwerk aufzubauen.

Wie ist denn die Stimmung bei Ihren Mitgliedern im Moment allgemein? 
Da, wo ich unterwegs bin, spüre ich viel Unzufriedenheit. Es gibt dieses Gefühl, überfordert zu sein von der Vielzahl der Krisen, die sich immer mehr aneinanderreihen: unverändert der Krieg gegen die Ukraine mit seinen Folgen, auch wirtschaftlichen, oder jetzt der Konflikt im Nahen Osten. Und damit verbunden auch eine Ohnmacht. Es gibt Abstiegsängste. Die Stimmung ist angespannt, wütend, aber ich würde nicht sagen mutlos.

Wütend auf was oder wen?
Oftmals ist es eine verallgemeinernde Wut auf „die Politik“. Ich sehe es als unsere Aufgabe, da auch zu zeigen, welche Unterschiede es gibt und dass es sich lohnt, genau hinzugucken. Wer trägt wofür die Verantwortung? Aber die Bewertung der politischen Entscheidungen der Bundesregierung ist eher negativ, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern. Was die Leute zum Beispiel wütend macht, ist, dass die Bundesregierung die grundsätzlich richtige Unterstützung für die Ukraine aus dem Regelhaushalt finanzieren will, statt in dieser Situation eine Haushaltsnotlage auszusprechen. Das unterminiert die Solidarität und die Unterstützungsbereitschaft in der Bevölkerung – ein tägliches Fest für Extremisten.

Herr Werneke, mit wie vielen Streiktagen müssen wir in diesem Jahr noch rechnen?
Ich könnte es mir einfach machen und sagen: Das müssen Sie die Arbeitgeber fragen. 

Aber Sie wissen natürlich auch, dass es ganz so ja nicht ist.
Ich sag mal so: Ich bin einigermaßen sicher, dass wir in den Bereichen, die besonders im Fokus stehen, also Lufthansa, Luftsicherheit und Nahverkehr, in den nächsten Wochen Abschlüsse bekommen werden. Und dann gibt es weitere Tarifbereiche, die für uns wichtig sind und in denen Verhandlungen laufen oder anstehen wie die Deutsche Telekom, Banken, Versicherungen und die Druckindustrie. Da kann es vielleicht auch zu Auseinandersetzungen kommen, aber dem will ich nicht vorgreifen. Und es gäbe natürlich dann auch eine andere Betroffenheit, als wenn der Bus nicht fährt.

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