Bildung: „Ein Stück Psychohygiene“: Warum die Schulleiterin Silke Müller für ein Handyverbot an Schulen plädiert

Brauchen wir auch in Deutschland ein Handyverbot an Schulen? Ja, sagt Schulleiterin und Bestsellerautorin Silke Müller. Sie glaubt, dass von klaren Regeln alle profitieren.

Frau Müller, Sie sind Schulleiterin einer Oberschule in Niedersachsen. Dürfen Schülerinnen und Schüler bei Ihnen das Handy mit in die Schule bringen?
Mitbringen ja; nutzen in der Regel nein.

Warum nicht?
Weil wir glauben, dass Schule ein besonderer Ort ist. Ein Ort, an dem man einander auf Augenhöhe begegnet. Und dazu gehört es, sich Face-to-Face ins Gesicht zu blicken.

Und das ist mit dem Handy nicht möglich?
Wir haben eine Zeit lang versucht, mit Handyzonen und Nutzungszeiten zu arbeiten. Das Ergebnis war, dass in den Pausen alle Schülerinnen und Schüler zusammenstanden und jeder auf sein Handy starrte. Aber die Schule sollte ein Raum sein, wo man neue Interessen entwickelt. Oder auch mal Langeweile aushält. Ich muss mich nicht sofort ablenken, wenn ich mal nicht weiß, was ich tun soll. Wir bieten unseren Lernenden eine analoge Zeit auf Augenhöhe. Inzwischen wird in unseren Pausen viel miteinander gesprochen. Und viel gelacht.

Wie finden die Schülerinnen und Schüler das?
Wir haben die Regeln gemeinsam entwickelt – mit dem Elternrat und dem Schülerrat. Inzwischen sind die Regeln total klar: Im Unterricht und in den Pausen bleibt das Handy aus. Dafür garantieren wir Eltern und Lernenden, dass beide im Notfall über das Sekretariat telefonisch erreichbar bleiben. Und – mit etwas Sarkasmus gesagt – das Verrückte ist: Eltern und Schüler überleben die handyfreie Zeit. Dennoch bleibt das Handy für viele eine Statussymbol. Aber oft reicht es, wenn es aus der Hosentasche guckt. Man muss es nicht mal benutzen. Daran halten sich die meisten.

Silke Müller leitet die Waldschule Hatten im Landkreis Oldenburg. Die 43-Jährige ist Digitalbotschafterin des Landes Niedersachsen. 2023 erschien ihr Buch „Wir verlieren unsere Kinder: Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat“, das zum Bestseller wurde
© Carolin Windel

Und wenn nicht?
Dann wird das Handy bis Schulschluss eingesammelt. Obwohl das Handy kein Tagebuch ist, schauen wir nicht ins Handy der Kinder und Jugendlichen. Aber es ist interessant zu erleben, wieviel Traffic da läuft. Da klingelt, piept oder vibriert es in einer Tour – Dutzende von Nachrichten pro Stunde. Es ist klar, dass das im Schulalltag nicht geht. Denn jede neue Nachricht lenkt ja ab. Jede Nachricht verlangt nach einer Reaktion. Wir möchten aber in unserer Schule einen Rückzugsraum schaffen, in dem es total okay ist, nicht ständig online zu sein und reagieren zu müssen.

In immer mehr europäischen Ländern wird die Handynutzung in der Schule durch Richtlinien oder Gesetze eingeschränkt. In Frankreich oder Italien gibt es solche Regelungen schon länger. Die Niederlande oder Großbritannien ziehen jetzt nach. Und hierzulande befürworten laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes INSA 60 Prozent der Deutschen ein Handyverbot in Schulen. Sie auch?
Ja, ich wäre dafür, die Handynutzung generell verbindlich einzuschränken. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Auch wenn ich es schrecklich finde, dass alles über Verbote geregelt werden soll. Die Verbotsdebatte nervt mich. Wir sollten ja eigentlich nicht verbieten müssen, sondern versuchen, positive Alternativen aufzuzeigen. Manchmal sagen junge Leute selbst, dass sie es ganz schön fänden, nicht so viel am Handy zu sein. Aber das ganz allein hinzubekommen, ist natürlich schwer. Ich glaube fest daran, dass wir Schülerinnen und Schüler hier unterstützen und ihnen in der Schule eine medienfreie Zeit gönnen können. Ein Stück Psychohygiene, wenn Sie so wollen. 

Warum ist die für Sie notwendig?
Nicht zuletzt die UNESCO hat festgestellt, dass ein Schulalltag ohne Handy Vorteile hat: Konzentrationsstörungen werden reduziert, die Lernumgebung wird verbessert. Die emotionale Stabilität von Kindern profitiert ebenfalls. Das sind exakt auch meine Erfahrungen und die meiner Kolleginnen und Kollegen. Bei vielen jungen Menschen leidet durch permanente Handynutzung die Fähigkeit, von Angesicht zu Angesicht miteinander zu kommunizieren. Wir dürfen uns nur keinen falschen Hoffnungen hingeben, dass ein Handyverbot in der Schule die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch soziale Medien verringert.

Welche Gefährdungen meinen Sie?
Es beginnt damit, dass sich die Schülerinnen und Schüler ständig fragen, ob sie geliked und gemocht werden. Werden sie geadded? Gehören Sie dazu? Schon diese Fragen setzen Kinder und Jugendliche unter Druck. Für manche gibt es praktisch keinen Konflikt mehr, der nicht irgendwie seinen Weg in die sozialen Medien findet. Dazu kommen die bekannten Probleme wie Cybermobbing, Gewalt und Pornografie. All dem sind die Kinder und Jugendlichen natürlich auch außerhalb der Schule ausgesetzt. Aber in der Schule können und sollten wir eine Art Schutz- und Resilienzraum schaffen. An unserer Schule haben wir mit einem eigenen Angebot reagiert: der Social-Media-Sprechstunde.

STERN PAID 18_23 Interview Schule „Die Schüler sehen sexuellen Missbrauch, unfassbare Gewalt und Morde“ 6.23

Wie funktioniert die?
Die Schülerinnen und Schüler können sich zu festen Zeiten an uns wenden und über Dinge sprechen, mit denen sie auf Snapchat oder Tiktok konfrontiert werden. Wir nehmen die Kinder und Jugendlichen in ihren Sorgen und Fragen ernst. Wir sagen nicht: Pack das Handy lieber mal öfter weg. Sondern wir begleiten in den Sprechstunden die Lernenden, fangen sie auf und stärken so ihre Medienkompetenz. Die Nachfrage ist riesig. Deshalb müssen meine Kolleginnen und Kollegen auch immer gut informiert sein, was in den sozialen Medien gerade so los ist. Ich bin keine Gegnerin von Smartphones, Smartwatches oder sozialer Medien. Ich glaube nur, dass wir den Umgang mit diesen Medien beherrschen sollten. Und deshalb kommt das Smartphone bei uns im Unterricht trotzdem ab und zu zum Einsatz – im Rahmen eines pädagogischen Konzeptes.

Wie muss man sich das vorstellen?
Wir haben zum Beispiel gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern analysiert, wie die AfD versucht, Tiktok für ihre politischen Ziele zu nutzen und dabei Kinder und Jugendliche manipuliert. Da war das Smartphone kein Selbstzweck, sondern wurde sinnvoll in den Medienunterricht und in anderen Fachunterricht eingebunden.

Was sagen Sie Menschen, die ein Handyverbot in der Schule für nicht durchsetzbar halten?
Ich weiß, dass es da viele Vorbehalte gibt: Manche Eltern sagen: Ich muss mein Kind erreichen können. Manche Juristen sagen: Ein Handyverbot wäre eine Einschränkung des Persönlichkeitsrechtes. Manche Politiker sagen: Klare, einheitliche Regelungen gehen nicht wegen des föderalen Systems. Das kommt, alles zusammen, für mich einer Bankrotterklärung gleich. In meinem Zimmer in der Schule hängt ein Spruch von Alexander von Humboldt: „Man kann viel, wenn man sich nur recht viel zutraut.“ Daran glaube ich. Ich glaube, wir haben Möglichkeiten, gemeinsam das Handy aus der Schule weitgehend herauszuhalten. Weil ich an die Schülerinnen und Schüler glaube. Und daran, dass wir uns an gemeinsame Regeln halten. 

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