Expertenrat: „Am Anfang hinterfragen sie ihre Idole nicht“ – wie Eltern ihre Kinder erreichen, wenn die nach rechts abdriften

Der Podcast „Hoss & Hopf“ bringt junge Menschen mit rechtem Gedankengut in Kontakt. Viele Eltern sind entsetzt, wenn ihr Kind plötzlich AfD-Parolen nachplappert. Was aber können sie konkret tun? Wir haben zwei Experten um Rat gebeten.

Vor wenigen Tagen hatte eine stern-Kollegin die Geschichte ihres 14-jährigen Sohnes öffentlich gemacht und fassungslos geschrieben: „Mein Kind würde die AfD wählen“. Verantwortlich dafür war offenbar der Podcast „Hoss & Hopf“, der seit Herbst 2022 insbesondere Kinder und Jugendliche mit rechtspopulistischen Sprüchen füttert. Seitdem fragt sich die Kollegin: Was ist da bloß passiert? Wie konnte mein Kind nur solchen Rattenfängern auf den Leim gehen?

Eine Frage, die Thorsten Niebling beantworten kann. Der Sozialpädagoge ist Co-Leiter der hessischen Beratungsstelle „Rote Linie“ und spezialisiert auf Rechtsextremismus. Er hat festgestellt: „Am Anfang sind die jungen Menschen wie frisch verliebt, sie hinterfragen ihre Idole nicht“, sagt Niebling im Gespräch mit dem stern.

Er erlebt Tag für Tag, was passiert, wenn sich Kinder und Jugendliche die falschen Vorbilder suchen und in rechte Gedankenwelten abdriften. Laut Niebling dauert es wenige Wochen bis zu einem halben Jahr, bis aus anfänglicher Neugierde eine neue Identität wird. „Je häufiger die entsprechenden Inhalte konsumiert werden, desto mehr wird die andere Meinung zur eigenen. Man fühlt sich der Gruppe mehr und mehr zugehörig und übernimmt die Glaubenssätze.“ Ab diesem Punkt seien Kinder für andere Fakten kaum noch zugänglich. 

Podcast Hoss und Hopf bei Tiktok gesperrt 17.09

Für Eltern ist das oft eine Zerreißprobe. Während das eigene Kind etwa Werbung für die AfD macht oder unreflektiert mit ausländerfeindlichen Parolen um sich wirft, stehen sie ratlos daneben. „Eltern reagieren oft mit einem Handyverbot und strengeren Regeln auf rechte Aussagen ihres Kindes“, ergänzt Niebling. Aus Angst, aus Überforderung, weil sie sich Sorgen machen und keine andere Lösung für das Problem kennen. Verbote führten allerdings häufig dazu, dass sich bei dem Kind eine Art Abwehrhaltung einstellt und es sich noch mehr in seine Gedankenwelt stürzt, weiß der Experte aus Erfahrung. 

Wie man wieder zu seinem Kind durchdringt

Besser: „Sprechen, sprechen, sprechen.“ Das jedenfalls ist der Ratschlag von Professor Michael Schulte-Markwort. Der Kinderpsychiater ist unter anderem Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Fasanenkiez und Supervisor der Praxis Paidion in Hamburg. Für ihn ist das Gespräch das Mittel der Wahl, wenn das eigene Kind dicht macht – und zwar so offen wie möglich: „Je mehr Kinder merken, dass bestimmte Themen ein rotes Tuch am Familientisch sind, desto intensiver befassen sie sich im Zweifel damit. Stichwort rebellische Phase.“ Wenn es keine Tabus gebe, dann könne man als Elternteil viel besser aufklären, erklären und einordnen. 

Auch Niebling weiß: „Wenn in der Familie eine gute Kommunikationskultur herrscht, ist es einfacher, auch politische Themen anzusprechen.“ Gute Kommunikationskultur, das bedeutet vor allem ein respektvolles Miteinander, bei dem keine Vorwürfe im Vordergrund stehen, sondern gegenseitiges Verständnis und Interesse. Selbst dann, wenn das Kind völlig blauäugig von der AfD schwärmt. „Wenn das Kind eine fragwürdige Aussage macht, dann können Eltern das Kind bitten, das Gesagte einmal zu erklären. Und dann sollten sie viele Fragen stellen: Wie kommst du darauf? Was denkst du darüber? Warum ist dir das wichtig?“, sagt Schulte-Markwort. 

Ein ehrliches und unvoreingenommenes Interesse am Leben des Kindes sei ein wichtiger Faktor, um auch in schwierigen Zeiten einen Draht zum eigenen Nachwuchs zu behalten. Kinderpsychiater Schulte-Markwort nennt das „Profiling“. “Es ist wichtig zu wissen, was für ein Kind man hat und welche Beziehungsgeschichte einander verbindet.“ Das gelte für jede Familie. „Wenn es um rechte Parolen geht, sollte man sich fragen, welche Werte und politischen Einstellungen man selbst seinem Kind vermittelt.“

Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort ist Ärztlicher Direktor der Marzipanfabrik und der Oberberg Fachklinik Fasanenkiez sowie Supervisor der Praxis Paidion in Hamburg. Er befasst sich seit 1988 mit der Heilkunde für Kinderseelen
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Lebt das Kind beispielsweise in einem links-grün-orientierten Haushalt, dann kann die neue Begeisterung für rechtes Gedankengut laut dem Psychiater auch eine Form des Protestes sein. „Die Abwendung von Eltern in der Pubertät, gerne auch mal unterfüttert mit irgendwelchen ideologischen oder religiösen oder wie auch immer gearteten Inhalten, ist Teil der normalen Identitätsfindung“, sagt Schulte-Markwort. Nicht jedes AfD-Fantum aus dem Mund eines Jugendlichen sei deshalb gleich Grund zur Sorge. Auch wenn es für Eltern hart sei, dies auszuhalten, gibt er zu bedenken: „Nur weil mein Kind rechter denkt als ich, bedeutet das nicht automatisch, dass ich einschreiten sollte. Wenn ich zu kritisch mit der Sichtweise meines Kindes umgehe, treibe ich es im schlimmsten Fall nur noch mehr in die Ideologie.“

Warum Kinder sich für rechte Akteure begeistern

Ein Mechanismus, den Sozialpädagoge Niebling regelmäßig beobachtet. Die Kinder sind geblendet, fühlen sich von ihren Eltern missverstanden und stürzen sich immer mehr in die Arme ihrer vermeintlich makellosen Idole. Niebling sieht die größten Chancen für Eltern auf der emotionalen Ebene: „Die Gefühle sind der wichtigste Zugang zu Kindern. Das machen sich auch rechte Angebote zunutze, indem sie mit Storytelling und einfachen Antworten auf komplexe Fragen arbeiten.“ Es reiche also nicht, die Botschaften mit Fakten zu entkräften, man müsse sich immer fragen: Welches Bedürfnis meines Kindes steckt hinter der Überzeugung?

Wertschätzung. Anerkennung. Zugehörigkeit. Stärke. Orientierung. Die Antworten auf diese Frage können vielfältig ausfallen. Aber oft liegen dem großen Interesse an extremen Strömungen tiefere Bedürfnisse des jungen Menschen zu Grunde, die anderswo nicht erfüllt werden. Schulte-Markwort sagt dazu: „Das Abdriften in rechte Gedankenmuster kann ein Signal dafür sein, dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist.“ Es sei also ein guter Anlass, dass Eltern einmal hinterfragen, wie die Beziehung zu ihrem Kind in den letzten Wochen und Monaten gelaufen ist – und ob man irgendwo den gemeinsamen Faden verloren hat. 

Mein Sohn würde die AfD wählen 11.24

Ist das der Fall, gilt es, den Faden wieder aufzunehmen. Mit einer respektvollen Handreichung, einem offenen Ohr und Herzen und vielen Fragen im Gepäck. Junge (und auch erwachsene) Menschen wollen oft in erster Linie gehört und gesehen werden. Wenn es Eltern gelingt, ihrem Kind zu signalisieren, dass Verständnis und Wertschätzung gegeben sind, dann stehen die Chancen für einen offenen Austausch gut. Schulte-Markwort sagt dazu allerdings, dass es nicht das Ziel sein sollte, dem Kind die eigene Meinung auszureden: „Man muss miteinander sprechen, um die Verbindung aufrechtzuerhalten.“ Er gibt dabei aber zu bedenken, dass auch ein 16-Jähriger das Recht auf Meinungsfreiheit habe. Und das gelte eben selbst dann, wenn diese Meinung vorübergehend durch eine rosarote – oder braune – Brille gefärbt sei.

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