Reise nach Kolumbien: In Guaviare herrschten lange Drogen und Krieg – dann entdeckten die Einwohner den Urwald

Guerilla und Kokain beherrschten Kolumbiens Süden, dorthin reisen wollte niemand. Nach langen Kriegsjahren entdeckt die Region ihren eigentlichen Schatz neu: den Urwald.

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An einem Morgen schleicht Cesar Arredondo durch dichten Regenwald, über der Schulter ein Fernrohr. Er will zeigen, dass dort, wo andere einen düsteren Ort sahen, das Paradies liegt. Laub knirscht unter seinen Stiefeln, in der Ferne röhren Brüllaffen. Arredondo blickt in die Wipfel, lauscht. Er hält inne. Ein Trillern. Seine Augen beginnen zu leuchten.

Über ihm landet ein Vogel auf einem Ast. Klein, braun, langer Schnabel, weiße Ohren. Galbalcyrhynchus leucotis, ein Kastanienglanzvogel. Arredondo, 33, Guide und Ornithologe, beobachtet ihn aufgeregt durch das Fernglas. Sein Lieblingstier. Vor vielen Jahren, erzählt er, sei es ihm erstmals auf dem Nachhauseweg begegnet. Stundenlang habe er es bestaunt – und eine Verbindung gefühlt zwischen sich und dem Tier. „Es war magisch“, sagt er.

Arredondo sagt, er habe vom Fliegen geträumt. Und dass er deshalb begann, Vögel zu beobachten, hier, in der Umgebung von San José del Guaviare, der Hauptstadt der Region Guaviare am Übergang zum kolumbianischen Amazonasgebiet. Zusammen mit Freunden zählte Arredondo die Vögel, die sie sahen. In ihrer Heimat entdeckten sie mehr als 550 Arten, ein Viertel aller Arten Kolumbiens, dem an Vögeln reichsten Land der Welt. Der Wald, in dem sie leben, ist unbegreiflich schön, er summt, zwitschert, brüllt. Bäume und Sträucher, saftig grün, recken sich der Sonne entgegen. Es ist, als berauschte sich die Natur an sich selbst. Arredondo und seine Freunde verstanden, dass in alldem eine Chance liegt – für einen Neuanfang.

Ornithologe Arredondo dokumentiert die Vogelarten der Region im Süden Kolumbiens
© Matthias Bolsinger

Jahrzehntelang suchten Menschen in Guaviare das schnelle Glück, das sie anderswo nicht fanden. Sie kamen aus allen Teilen Kolumbiens, um seltene Tiere zu jagen, Holz zu schlagen, Drogen anzubauen. Guaviare wurde zu einem Ort, den Menschen verachteten, fürchteten, mieden. Weil die Rebellen der sozialrevolutionären Guerillabewegung Farc den Dschungel regierten, Krieg und Kokain herrschten. Während sich andere Teile des Landes zu beliebten Reisezielen entwickelten, die Karibikküste etwa und die Kaffeeregion im Landesinnern, galt Guaviare als „rote Zone“, international allenfalls bekannt, weil die Farc die Politikerin Ingrid Betancourt entführt hatten. Urlaub? Wollte hier niemand machen. Bis 2016 Staat und Rebellen Frieden schlossen.

Tourismus als ökonomische Alternative für den Süden Kolumbiens

Seither entdecken die Menschen Guaviare neu. Die Region ist ein touristischer Geheimtipp, noch. Wer hier reist, trifft auf Einwohner, die durch den Tourismus ihr Leben ändern. Ihr Verhältnis zur Natur. Und damit vielleicht das Schicksal ihrer Heimat.

Cesar Arredondo hat den Wandel mit angestoßen. In Schulklassen begann er seinen Freunden vom Vogelreichtum Guaviares zu erzählen. Sie wollten, dass die Menschen hier begreifen, welch Reichtum vor ihrer Haustür ist. Dass sie ihre Natur schützen. Guaviare gehört bis heute zu den Gebieten des Landes, in denen am meisten Regenwald gerodet wird. Wer Land besitzt und damit Wald, machte ihn zu Geld, indem er ihn fällte, für Rinder oder Koka. Etwas anderes gab es nicht. Arredondo sagt: „Mir wurde klar: Man schützt die Natur nicht, wenn man dabei hungert.“

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Erste Touristen kamen. Zunächst waren es ausländische Vogelbeobachter, die Arredondo für Touren bezahlten. Auch die Landwirte begriffen: Wenn sie die Natur bewahren, zahlen Besucher, um sie zu erleben. Um den Fluss zu sehen, den seltene Algen rosarot färben. Um in den Becken aus Gestein zu baden oder zwischen bizarren Felsformationen zu wandern. Der Tourismus wurde zur ökonomischen Alternative für die Bewohner Guaviares. „Er ist für sie ein Bewusstseinswandel“, sagt Arredondo.

Bunter Vogel im Süden Kolumbiens: der Tiefland-Felsenhahn
© WILDLIFE

Was tun, wenn der Krieg geht?

Etwa drei Stunden mit dem Geländewagen entfernt führen Cesar García und Freddy Campo aus der heißen Savanne auf einem schmalen Pfad in ein Stück Wald. Grillen zirpen, Affen huschen durch die Wipfel, eine Schlange kreuzt den Weg. Eine Lichtung gibt den Blick frei auf ein karges Camp, auf provisorische Bänke und Tische, überspannt mit schwarzen Planen. In Lagern wie diesem haben die beiden Männer lange gelebt. Hier wollen sie jetzt davon erzählen.

Sie führen zu einem Bett aus Ästen und Laub und zeigen auf eine kleine Grube, direkt daneben. Ein Schutzraum, in den man sich abrollen konnte, sollte der Feind im Schlaf angreifen. Nichts an diesen Camps war auf Dauer, aber alles ausgelegt auf den Krieg. Cesar García, Anfang 30, ein stämmiger Mann mit dem Gesicht eines Jungen, sagt: „Drohte ein Bombardement, mussten wir schnell zusammenpacken und weiterziehen.“

García und Campo waren Jugendliche, als sie der Farc beitraten. Ihr Leben war der bewaffnete Kampf gegen den Staat, ihr Zuhause der Wald. Als 2016 der Frieden kam, fragten sie sich wie so viele Ex-Kämpfer: Wie wird man Teil einer Gesellschaft, zu der man nie gehört hat? Die Antwort darauf hieß „Manatú“, ein Projekt für Naturtourismus; sie haben es im Jahr 2022 gegründet.

Mitten in der Savanne erschaffen García und andere Ex-Guerilleros seither einen Ruheort. Gelbe Schmetterlinge flattern durch die Luft, Hühner wackeln über das Gras. Abends, wenn die Sonne hinterm Horizont verschwindet, blinken Tausende Glühwürmchen, und es wirkt, als trügen die Gräser und Sträucher Lichterketten. Am Nachthimmel leuchtet ein Meer von Sternen. Schwer zu glauben in diesen Momenten, dass hier einmal etwas anderes als Frieden war.

Mit rosa Delfinen schwimmen

Bei Manatú können Gäste in kleinen Backsteinhäusern mit grünem Dach übernachten. Sie können sich bekochen lassen von den ehemaligen Kämpfern, Radtouren machen, in einer Lagune einige Kilometer weiter mit rosa Amazonasdelfinen schwimmen – und im nebenan liegenden Dschungel erfahren, wie es wirklich war, bei den Farc zu sein. Ein Stigma, gegen das García und seine Mitstreiter hier anarbeiten.

García und Campo erzählen in ihrem nachgebauten Camp von Gefechten und verstorbenen Kameraden. Aber auch von Gemeinschaft und Tanz, vom Baden im Fluss, vom Frieden des Waldes bei Nacht. Es war ein Leben im Kriegszustand. Aber eben auch das: ein Leben.

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Die ehemaligen Kämpfer kennen den Wald wie nur wenige andere Kolumbianer. „Der Wald hat uns beschützt“, sagt García. „Also wollen wir ihn jetzt schützen.“ Auch er sieht im Tourismus eine Chance, die Zerstörung aufzuhalten. Um das zu erklären, führt er an einen kleinen Bach. Der sei ein Quell des Lebens für den Wald. Aber wenn die Landwirte in der Umgebung weiter brandrodeten, werde der Bach versiegen. „Die Landwirte haben gefragt, ob unsere Touristen nicht auch ihre Ländereien besuchen könnten“, erzählt García. „Wir versuchen ihnen deutlich zu machen, dass sie dafür aufhören müssen zu roden.“ Ohne gesunde Natur keine Touristen. Und ohne Touristen kein zusätzliches Einkommen.

Mit seinen Plänen, erzählt García, stehe Manatú gerade erst am Anfang. Gäste sollen in Hängematten entspannen können, sobald die Bäume auf dem Gelände groß genug sind, sie sollen in einem Pool baden können. Noch braucht er einen Generator, um Energie zu erzeugen, schon bald will er die Anlage rund um die Uhr mit Solarstrom betreiben.

Immer wieder, erzählt García, kämen Biologiestudierende zu ihnen. Die Ex-Kämpfer zeigen denen, wo sie die Fische finden, welche die jungen Leute für ihre Abschlussarbeiten erforschen, wo sich die Vögel verstecken und die Frösche. Als Menschen des Waldes wissen sie das am besten. Möglicherweise haben sie hier schon drei neue Froscharten und eine neue Vogelart entdeckt, sagt García, die Ergebnisse entsprechender wissenschaftlicher Prüfungen stünden noch aus. Auch das ist das neue Guaviare seit dem Friedensvertrag: eine Region, die sich selbst entdeckt.Rosa Algen färben einen Fluss in der Nähe von San José, Kolumbien

In Raudal del Guayabero etwa dachten sie, ihre besten Zeiten seien schon vorbei. Ihr Dorf stand vor dem Ende. Dann erfuhren sie: Sie hüten seit Jahrzehnten, ohne es genau zu wissen, einen Schatz.

Wandel nach Handel

An einem Abend sitzt Norbey Méndez, 49, unter dem Vordach seines kleinen Hauses und erzählt von der Wiederauferstehung seiner Heimat. Méndez ist Präsident einer Art Anwohnergemeinschaft. Sein Dorf, Raudal del Guayabero, besteht aus nur ein paar Häusern. Sie schmiegen sich zwischen einen Hang und einen Fluss, durch den Delfine gleiten. Ein ruhiger Ort, umschlungen vom Regenwald. Raudal war verrufen. Aber seit einigen Jahren zieht das Dorf Touristen an. „Ich bin jetzt Teil einer anderen Geschichte“, sagt Méndez. „Einer Geschichte des Wandels, von der Illegalität in die Legalität.“

Méndez kam in den 90er-Jahren wie so viele vor ihm in der Hoffnung auf Arbeit und Wohlstand. Raudal, ursprünglich die Heimat von Jägern, die Ozelote schossen, um deren Felle zu verkaufen, von Holzhändlern, die den Wald niederschlugen, von Leuten, die Marihuana anbauten, war damals zu einem Zentrum des Kokainhandels geworden. Zu einem Treffpunkt der Zwischenhändler, der „chichipatos“, die mit ihren Tüten voller Geld kamen, mit ihren Waagen und ihren Taschenrechnern, und den „cocaleros“, den Koka-Bauern, die ihnen ihre Paste verkauften. So gut wie jede Familie im Dorf arbeitete im Koka-Anbau. Menschenmassen drängten sich in den Straßen. Die Händler verjubelten ihren Anteil in Diskotheken, Billardbars, Hotels, Restaurants. Trubel im Ort, Feststimmung, Reichtum.

So viel Geld sei geflossen, dass Kokainhändler sich mit Pesos den Po abgewischt hätten, erzählt eine Bewohnerin. Man habe nicht gedacht, dass diese Ära jemals vorbeigehe, erzählt ein anderer, man habe das Geld mit beiden Händen ausgegeben. „Damals kamen Leute, die arm waren, schnell zu viel Geld“, sagt Méndez. Auch er stieg ein ins Geschäft, vermittelte Kokainpaste an die Guerilla, mit der er gute Kontakte pflegte. Er verkaufte ihnen Gewehre und Granaten.

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Aber mit dem Krieg gegen die Guerilla und die Drogen, mit den Attacken des Militärs und dem Gifteinsatz gegen die Kokasträucher, kam der Niedergang. Die Menschen verließen Raudal, ihre Häuser verfielen, die Billardbar im Dorfzentrum wurde zur Ruine. Hier hätte die Geschichte des Dorfs enden können. Wäre da nicht dieser Schatz.

Um ihn zu sehen, steigt man in Raudal in ein Holzkanu, fährt durch Stromschnellen einige Minuten flussaufwärts, klettert einen Pfad durch dichten Wald hinauf, bis die Bäume den Blick auf eine bleiche Felswand freigeben. Sie ist übersät von unzähligen rostroten Malereien.

Holz auf Wasser: im Kanu über den Río Guayabero, Kolumbien
© Matthias Bolsinger

Der Fels unweit von Raudal ist einer von mehreren in der Region, auf denen diese Art von Malereien zu sehen ist. Ihr Ursprung liegt wohl über 12.000 Jahre zurück, bis zur letzten Eiszeit. Manche Motive auf jenen Felsen sind klar zu erkennen: Affen, Schildkröten, Vögel, Handabdrücke, tanzende Menschen, eine schwangere Frau. Andere sind auch Forschern ein Rätsel. Möglich, dass jüngere Malereien die Foltermethoden der Eroberer zeigen. Dass ältere Malereien von Eiszeittieren wie Urpferd oder Riesenfaultier erzählen. Das ist umstritten.

Unumstritten ist nur der unschätzbare archäologische Wert der Felsmalereien. Erstmals beschrieb sie der Franzose Alain Gheerbrant um 1950. Aber sie blieben, auch wegen des Konflikts, lange unbeachtet. Bis jetzt.

Mit dem Frieden kamen die Archäologen

„Als ich hierhinzog, führte mein erster Spaziergang zu den Zeichnungen“, sagt Norbey Méndez. Sie faszinierten ihn, sie erinnerten ihn an seine Kindheit, an die Zeit mit seinem Vater, einem Schatzsucher. Ein Geheimnis waren sie den Einheimischen nicht. Vereinzelte Besucher kamen, sie zu bestaunen. Aber was die Malereien für ihre Zukunft bedeuten könnten, verstanden die Bewohner Raudals erst spät. Nach dem Friedensschluss der Regierung mit der Farc kamen die Archäologen und mit ihnen die Touristen.

Ur-Graffiti: Felsmalereien bei Raudal del Guayabero, Kolumbien
© Matthias Bolsinger

Heute arbeitet das ganze Dorf zusammen, um die Menschen zu den Malereien zu führen, ihnen eine Unterkunft zu bieten, sie zu bekochen. Familien, die einst davon lebten, den Wald zu zerstören und Tiere zu jagen, leben jetzt davon, all das zu bewahren. Die Malereien haben ihnen eine zweite Chance gegeben. „Wir haben hier eine große Verantwortung, dieses Menschheitserbe zu schützen“, sagt Méndez. Er glaubt, dass in dieser Mission die Zukunft des Dorfes liege, ein Versprechen auf ein besseres Leben.

Auch wenn Méndez nicht von hier ist, von hier will er nicht weg. Hier ist sein Zuhause. Er sagt, er sei ein Mann aus Guaviare.

Es ist nicht selbstverständlich, das zu sagen. Vor nicht allzu langer Zeit, so heißt es, reisten junge Menschen, wenn sie volljährig wurden, in eine andere Stadt, um sich dort ihren Personalausweis ausstellen zu lassen. Sie wollten ihre Herkunft verschleiern. „Guaviare“ im Ausweis, das hieß damals: Guerilla, rote Zone. Das alte Stigma.

Die Menschen haben damit aufgehört. Heute sind sie stolz auf ihr Zuhause. Guaviare steht jetzt auch für Hoffnung.

Tipps

Anreise: San José del Guaviare erreicht man von Kolumbiens Hauptstadt Bogotá aus mit dem Bus (ca. 9,5 Stunden) oder per Flug (ca. 1,5 Stunden)

Übernachten

Hab: Für den Zwischenhalt in Bogotá: Das stilvolle Hotel mit Backsteinfassade befindet sich im In-Viertel Chapinero Alto und hat ein Farm-to-table-Restaurant. DZ ab ca. 60 Euro. Bogotá, Carrera 5 # 58-07, Tel. +57/318/547 96 11
 Quinto Nivel:Frühstück auf der Dachterrasse, bequeme Betten und Klimaanlage. DZ ab ca. 70 Euro. San José del Guaviare, Cl. 7 # 24-25, Tel. +57/320/879 75 40

Essen und Trinken

El Dorado de Omar Der erste Eindruck täuscht, das familiäre Restaurant in der Stadtmitte serviert eine unfassbar leckere Fischsuppe. San José del Guaviare, Cl. 7 # 20-108, Tel. +57/322/237 35 92
 Catumare Traditionelle Speisen der Amazonasregion, modern interpretiert, dazu erfrischende Fruchtsäfte. San José del Guaviare, Transversal 20 # 5a, Tel. +57/316/426 52 86

Erleben

Umgebung von San José del Guaviare Touren ins Umland von San José organisieren lokale Agenturen, etwa Biodiverso Travel des Ornithologen Cesar Arredondo ([email protected], Tel. +57/313/476 58 54)
 Manatú: Das Naturtourismus-Projekt von ehemaligen Farc-Kämpfern bietet Tagesausflüge ab San José und mehrtägige Touren, die etwa zur Delfin-Lagune führen. Übernachtet wird in einfachen Häusern. Tel. +57/316/754 55 61, Mail: [email protected]
 Felsmalereien: Außer bei Raudal del Guayabero sind die teils jahrtausendealten Malereien auch bei Nueva Tolima und am Cerro Azul zu finden

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