Lawrence Leuschner: Tier-Gründer über E-Scooter-Krise: „Es hätte ja auch alles aufgehen können“

Das E-Scooter-Start-up Tier war mal 1,7 Mrd. Euro wert – nun muss es mit einem deutlich kleineren Wettbewerber fusionieren. Gründer Lawrence Leuschner über fehlgeschlagene Wachstumspläne, weitere Entlassungen und seine persönliche Zukunft.

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Der einst so gehypte E-Roller-Markt steckt in der Krise, in der Branche herrscht verschärfter Konsolidierungsdruck. Marktpionier Bird meldete Ende 2023 Insolvenz an – der deutsche Marktführer Tier verkündete Anfang des Jahres die Fusion mit einem Wettbewerber, dem deutlich kleineren niederländisch-französischen Start-up Dott. Über die Hintergründe der ungleichen Partnerschaft, die Lage in der Start-up-Szene und seine persönliche Zukunft spricht Tier-Gründer Lawrence Leuschner im Interview.

Capital: Herr Leuschner, Dott war einer Ihrer schärfsten Rivalen in Europa. Warum tun Sie sich jetzt zusammen?
LAWRENCE LEUSCHNER: Uns war klar, dass der Markt Konsolidierung braucht. Als einer der größten Player wollten wir dabei vorweggehen. Wir haben uns die Optionen angeschaut und festgestellt, dass Dott der richtige Partner für uns ist.

Weshalb?
Aus verschiedenen Gründen: Wir haben ein sehr ähnliches Bild von der Zukunft und teilen die gleichen Werte – im Umgang mit unseren Kunden, den Städten sowie bei den Standards für Nachhaltigkeit und Sicherheit. Es kommt jetzt eine Zeit, in der wir mehr zusammenarbeiten müssen statt gegeneinander – nicht nur in unserer Industrie.

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Warum braucht es die Konsolidierung gerade jetzt?
Vor fünf Jahren sind wir mit 25 Wettbewerbern gestartet. Nach dem Ausstieg von Bird aus dem europäischen Markt sind jetzt noch vier, fünf Player übrig. Größe hilft bei der Profitabilität – und die ist gerade absolut entscheidend für alle Start-ups. Dementsprechend ist es wichtig, seine Marktführerschaft zu zementieren. 

Sie waren mit Tier nach eigenen Angaben schon vorher Marktführer, sind in rund 400 Städten präsent, Dott nur in 50. Was wird durch die Fusion besser?
Wir sind Marktführer in Europa, das ist richtig. Auf lokaler Ebene gibt es allerdings ein paar Märkte, wo wir das nicht sind – etwa in Italien, Frankreich und Belgien. Wir wollen aber in allen relevanten Städten die Nummer eins sein. Dabei hilft uns Dott auf lokaler Ebene.

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Trotzdem ist das kein Zusammenschluss auf Augenhöhe. Und aufgrund der Größe wären Sie, Herr Leuschner, eigentlich der logische Kandidat für den Chefposten des neuen Gemeinschaftsunternehmens. Stattdessen wechseln Sie in den Aufsichtsrat. Warum?
Auf dem Papier ist es natürlich eine Akquisition, weil wir größer sind. Wir sprechen von Zusammenschluss, weil es uns wichtig ist, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Auf der Ebene des Managements teilen wir uns deshalb die Positionen. Über die CEO-Frage hatte ich ein offenes und ehrliches Gespräch mit Dott-CEO Henri Moissinac. Seine Vision für das Unternehmen hat mich überzeugt, zudem ist er ein extrem erfahrener Unternehmer, der ähnlich wie ich im Second-Hand-Bereich gegründet hat und später bei Facebook und Uber als Tech-Manager erfolgreich war. Am Ende muss man sich dann in die Augen schauen. Für mich hat es sich dann richtig angefühlt zu sagen: Henri, you do it.

Über reichlich Erfahrung als Unternehmer verfügen aber auch Sie. War das wirklich der Hauptgrund?
Es lag nicht am Vertrauen und es lag auch nicht daran, dass ich nicht der richtige Mann für die Rolle gewesen wäre. Wir hätten es beide machen können. Für mich ist es eine schöne Option, nochmal eine andere Rolle zu übernehmen. Das hat auch private Gründe. Die letzten fünf Jahre waren extrem intensiv. 

Bedeutet die Personalie auch, dass das neue Unternehmen sich mehr an der unternehmerischen Philosophie von Dott orientieren wird? Es heißt ja, bei den Franzosen werde eine deutlich konservativere Kostendisziplin gepflegt als bei Tier.
Man muss dafür erstmal verstehen, wo beide Unternehmen herkommen. Tier hat viele Unternehmen zugekauft und war sehr aggressiv auf dem Markt unterwegs – wir waren „adventurous“. Als sich die Kapitalmärkte dann verändert haben und sich der Fokus auf Profitabilität verschoben hat, mussten wir sehr schnell den Kurs ändern. Und wenn man ein größeres Schiff fährt, dauert es natürlich, bis man sich dreht. Das Unternehmen kann sehr stolz darauf sein, dass wir das Ebitda von minus 63 Prozent im Jahr 2022 auf minus 15 Prozent im Jahr 2023 reduziert haben. Dott hatte von Anfang an eine andere Wachstumsphilosophie, ist aber auch noch nicht profitabel. Es gibt da kein richtig oder falsch. Grundsätzlich werden wir die nächsten ein, zwei Jahre einen klaren Fokus auf Profitabilität und weniger auf Wachstum haben – das haben wir im vergangenen Jahr schon in beiden Unternehmen genauso gemacht.

Was sind die entscheidenden Stellschrauben, um in die Gewinnzone zu gelangen? Wird es weitere Entlassungen geben?
Wir haben erst Ende November Kürzungen beim Personal und bei anderen Kostenpunkten durchgeführt, um auf jeden Fall profitabel zu werden. Auf dem gemeinsamen Weg schauen wir uns jetzt etwa Büros und Software an – und in wenigen Bereichen auch das Personal. Wir wollen voneinander lernen. Und wenn wir irgendwann mit einer Marke und einer operativen Einheit auftreten, brauchen wir auch keine zwei Warehouses und doppelte Teams mehr. Wie wir diese Synergien genau heben, wird sich aber noch zeigen. Und nicht zuletzt haben wir uns als Wettbewerber bislang in einigen Städten Marktanteile weggenommen. Wir werden uns diese Überschneidungen anschauen und wie wir dort künftig zusammenarbeiten.

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Wie groß ist denn die geografische Schittmenge von Tier und Dott?
Wir sind in einigen Städten in Belgien, Frankreich, Italien und Polen parallel präsent.

Und am Ende wird nur eine Marke übrigbleiben, richtig?
Wir wollen erst mal beide Marken behalten. Über die Zeit will man dann natürlich zu einer Marke und einer Tech-Plattform übergehen. 

Tier war zu Hochzeiten mit 1,7 Mrd. Euro wert. Das neue Unternehmen wird laut übereinstimmender Berichte von den Investoren nur noch mit 150 Mio. Euro bewertet. Woher kommt diese massive Abwertung?
Wir kommunizieren nie Bewertungen.

Die 1,7 Mrd. Euro haben Sie 2021 selbst veröffentlicht. 
Zu diesem Zeitpunkt ging das nicht anders, weil ein Börsenunternehmen in uns investiert hatte. Grundsätzlich kommunizieren wir aber weder Bewertungen noch absolute Umsatz- und Gewinnzahlen.

„Wir haben jetzt ein riesiges Potenzial, um nachhaltig profitabel zu werden“

Tier hat unter Ihrer Führung reihenweise Übernahmen getätigt, ist in neue Mobilitätsbereiche und Regionen vorgedrungen – darunter eine gescheiterte Expansion in die USA. Bereuen Sie die Strategie, die Sie vorhin als „adventurous“ beschrieben haben, im Nachhinein?
Hinterher ist man immer schlauer. Hätte mir jemand gesagt, dass eine Pandemie kommt, die alle unsere Städte auf null setzen wird, direkt gefolgt von einem Krieg in Europa mit einer Gaskrise und einer Rezession – dann hätte ich natürlich gesagt: Lasst uns mal lieber nicht so „adventurous“ sein. Aber leider konnte ich das damals nicht absehen. Es hätte ja auch alles aufgehen können. Viele Entscheidungen hatten damals gute Gründe, etwa die Expansion in die USA. Ich mache mir keine Vorwürfe.

Die vielen Krisen und die Kapitalflaute haben viele Start-ups kalt erwischt, die vorher auf möglichst schnelles Wachstum ausgelegt waren. Aktuell sieht es nicht nach Besserung aus. Wie blicken Sie auf 2024?
Auf jeden Fall deutlich optimistischer. 2023 war einfach ein Biegen und Brechen auf Profitabilität. Das war extrem anstrengend – da bin ich sicher nicht der einzige Gründer in Europa, der das sagt. Aber wir haben viel erledigt. Durch die vereinten Kräfte mit Dott haben wir jetzt ein riesiges Potenzial, um nachhaltig profitabel zu werden.

Der Markt für Leih-E-Scooter wurde schon oft totgesagt. Wie sehen denn die Zahlen aktuell aus?

Im Gegensatz zu vielen anderen Märkten ist die Branche dieses Jahr wieder gewachsen. Das gilt auch für uns als Unternehmen, obwohl wir bei der Profitabilität einen riesigen Sprung gemacht haben. Wir reden da über eine zweistellige Millionenzahl an Fahrten, die wir jedes Jahr machen. Das ist kein Hype, der nur einen Tag hält. Viele Städte gehen nachhaltige Mobilität an und bauen mehr Fahrradwege. Und nicht zuletzt sind wir ja auch kein reines Roller-Unternehmen – 40 Prozent unserer Umsätze kommen mittlerweile aus der E-Bike-Sparte.

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In vielen Städten wird allerdings heftig um die Roller gestritten. Berlin begrenzt die Zahl der Fahrzeuge, Paris hat den kommerziellen E-Scooter-Verleih ganz verboten. Wie groß ist Ihre Furcht vor politischem Gegenwind?

Wir sollten wirklich andere Probleme haben als darüber zu diskutieren, ob jetzt 10.000 oder 15.000 E-Scooter in der Stadt sein sollen. Paris war ein politischer Thriller für sich, bei dem sich die Kandidaten mit dem Thema profilieren wollten. Wir sind dort aber mit E-Bikes inzwischen sehr erfolgreich. Klar, es gibt immer Städte, in denen es Diskussionen gibt. Aber es gibt auch Städte, die mehr E-Scooter wollen.

Sie wechseln vom Chefsessel auf den Aufsichtsratsvorsitz. Für einen Seriengründer wie Sie dürfte das kaum auslastend sein. Was haben Sie als nächstes vor?
Meine absolute Priorität ist es, den Deal abzuschließen. In den kommenden Wochen müssen noch ein paar Abschlussbedingungen erfüllt werden. Dann wird es erstmal darum gehen, in meiner neuen Rolle einen guten Job zu machen. Wenn das alles steht, kann ich mir immer noch Gedanken machen.

Zum Beispiel über ein neues Start-up?
Hmm. (Überlegt einen Moment) Ich habe noch nie für jemanden gearbeitet. Es gibt wohl keine andere Option, als selbst zu gründen.

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