Stern-Chefredakteur: Wird die US-Wahl zum Referendum? Über Joe Bidens Gesundheitszustand

Chefredakteur Gregor Peter Schmitz fragt sich mit Blick auf den neuen stern, wie Joe Biden diese fragile Welt zusammenhalten will. Der gesundheitliche Zustand des US-Präsidenten wirft Zweifel auf. Doch Alternativen gibt es kaum.

Wenn US-Präsidenten meinen, einen entschiedenen Satz über ihre präsidiale Eignung sagen zu müssen, ist das meist ein Zeichen, dass es entschiedene Zweifel gibt an ihrer Eignung für das härteste, das aufreibendste Amt der Welt. Als Richard Nixon, tief verstrickt im Watergate-Skandal, Reportern zurief: „Ich bin kein Gauner“, wusste jeder: Doch, du bist einer. Bill Clinton betonte mal: „Ich spiele noch eine Rolle“, da tat er dies wegen seiner Affären gerade nicht wirklich. Und Joe Biden? Der sagte vergangene Woche in einer eilig einberufenen Pressekonferenz: „Mein Gedächtnis ist in Ordnung.“ Kurz darauf verwechselte er den Präsidenten von Ägypten mit dem von Mexiko; davor hatte er Helmut Kohl und Angela Merkel vertauscht.

STERN PAID Wie fit ist Biden?

Biden war aufgewühlt, da ihn ein Bericht über seinen Umgang mit geheimen Dokumenten zwar juristisch freigesprochen, aber politisch angeschossen hatte. Als „wohlmeinender älterer Herr mit schlechtem Erinnerungsvermögen“ wird er darin beschrieben, der „mit zunehmendem Alter über nachlassende Fähigkeiten“ verfüge. Diese Worte dürften nun in fast jedem Trump-Werbespot auftauchen. Und sie könnten die treffsichersten sein, denn Trump-Kritik etwa an seiner Wirtschafts- oder Außenpolitik kann Biden jeden Tag kontern. 

An seinem Alter vermag er aber nichts zu ändern – diese Bürde wird mit jedem Tag schwerer. Zum Ende seiner zweiten Amtszeit wäre Biden 86 Jahre alt. Wie sehr man in diesem Alter nachlässt, versteht jeder Wähler. Biden hat immer als größten Trumpf ausgespielt, Trump verhindern zu können. Wenn Bidens eigene Schwäche so sehr im Fokus steht, könnte die Wahl aber eher zum Referendum über ihn werden. 86 Prozent der Amerikaner sagen laut einer ABC-Umfrage, Biden solle nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren.

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Gesundheitszustand des US-Präsidenten lässt sich schlecht verschleiern

Offiziell scharen die US-Demokraten sich hinter ihm. Es gibt, eigentlich unfassbar, auch kaum personelle Alternativen. Vizepräsidentin Kamala Harris ist ähnlich unbeliebt wie ihr Chef. Und Michelle Obama, die ewige Wunschkandidatin der Demokraten? Als ich sie 2022 interviewen durfte, wollte Obama wegen zu drängender Fragen zur Politik oder einer möglichen Präsidentschaftskandidatur sogar fast das Interview abbrechen. Sie will nicht in die Politik.

Also wird Biden es wohl machen. Es ist eine Wette, eine waghalsige. Nun muss er sich, anders als im Corona-Wahlkampf 2020, unters Volk mischen. Dabei kann viel schiefgehen. Seine Berater versuchen ihn abzuschirmen, sie lassen ihn über eine kürzere Treppe ins Präsidentenflugzeug einsteigen, sie lassen kaum Interviews zu. Den Gesundheitszustand des Präsidenten zu verschleiern, das hat im 20. Jahrhundert geklappt, als Franklin D. Roosevelt kaum laufen konnte wegen seiner Kinderlähmung oder als John F. Kennedy dauerkrank war. Aber heute? Und wie ginge Regieren unter solchen Umständen? 

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Mein Kollege Jan Christoph Wiechmann, der die US-Politik seit Jahrzehnten begleitet, schreibt in unserer Titelgeschichte: „Gerade in diesen Zeiten internationaler Kriege und Krisen brauchte es einen blitzgescheiten, omnipräsenten US-Präsidenten. Es macht einen Unterschied, ob Biden auf der Münchner Sicherheitskonferenz als Herr im Ring erscheint wie in früheren Jahren – oder nur als entfernter Beobachter. Ob er Sitzungsmarathons besteht wie einst Angela Merkel – oder wegnickt wie auf dem Klimagipfel 2021 in Glasgow. Ob er sich in Krisengebiete begibt – oder lieber auf beschwerliche Reisen verzichtet, wie empfohlen von seiner Ehefrau Jill. Die Zweifel sind legitim: Wie soll Biden in diesem Zustand diese fragile Welt vier weitere Jahre zusammenhalten? Wie soll er die Ukraine verteidigen gegen einen gerissenen Putin, der jede kleine Schwäche ausnutzt? Und wie soll seine größte Mission gelingen, die Wiederholung dessen, was er 2020 nur mit Ach und Krach schaffte: den Möchtegern-Autokraten Donald Trump zu verhindern?“.

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