Bernd Siggelkow, Gründer der Arche, und Wolfgang Büscher prangern in ihrem neuen Buch das Versagen der Politik an: Das Verbrechen an unseren Kindern.
Er war sechs Jahre alt. Da stand seine Mutter eines Tages vor ihm und sagte: „Ich gehe und komme nie wieder!“ Sie verließ die Familie: ihre beiden Söhne und den Mann. Die jahrelangen Streitereien hatten sie mürbe gemacht. Bernd Siggelkow wuchs nicht nur ohne Mutter auf, sondern auch ohne Liebe, in Einsamkeit, Armut und Hoffnungslosigkeit.
Theologe und Gründer von „Die Arche“, Bernd Siggelkow
© Die Arche
Seine persönlichen Erfahrungen haben ihm geholfen Menschen, aber vor allem Kinder zu verstehen. 1995 gründete der Theologe das Kinder- und Jugendhilfswerk „Die Arche“.
Inzwischen gibt es deutschlandweit über 30 Häuser, täglich kommen bis zu 7000 Kinder und Jugendliche. Sie erhalten nicht nur ein warmes Mittagessen, Unterstützung bei den Hausaufgaben, sondern vor allem Zuwendung.
Bilanz nach fast 30 Jahre Kampf gegen Kinderarmut
Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher, ehrenamtlicher Pressesprecher der Arche, haben bereits mehrere Bücher gemeinsam geschrieben. In ihrem neuesten wird Siggelkow nicht nur sehr persönlich, sondern nach fast 30 Jahren Einsatz für arme Kinder ziehen die beiden Autoren auch eine vernichtende Bilanz. Sie werden deutlich wie selten zuvor. Siggelkow: „Die Politik begeht Verbrechen an unseren Kindern. Nur wir als Gesellschaft können den nötigen Druck aufbauen, um das zu ändern.“ Ihr Buch ist wie Hilfeschrei.
Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher: „Das Verbrechen an unseren Kindern. Warum junge Menschen scheitern und was wir dagegen tun müssen“, Bonifatius Verlag, 256 Seiten, 22 Euro.
© Bonifatius
Armut ist meist unsichtbar, Mädchen und Jungen lernen früh, sie zu kaschieren, denn Armut ist peinlich, nichts, auf das man stolz sein könnte. Viele Eltern schaffen es nicht, ihre Kinder ausreichend zu versorgen, so die Beobachtung der Arche-Mitarbeiter. „Sollen wir die Mütter und Väter hungern lassen und bestrafen? Sollen wir Kinder unter einer solchen Situation leiden lassen müssen? Nehmen wir die Kinder etwa in Sippenhaft?“, fragen die beiden Autoren polemisch in ihrem Buch.
Buch des Arche-Gründers: Politik als „narzisstische Luftpumpe“
Siggelkow und Büscher gehen hart ins Gericht mit Politikern. Die erwiesen sich als „narzisstische Luftpumpe“: Sie besuchten die Einrichtungen, fragten nach Konzepten für ihre Parteiprogramme – würden aber bisher nichts davon umsetzen. Büscher: „Wir NGOs werden allein gelassen mit Themen, die eigentlich die Politik lösen müsste. Wir brauchen mehr Unterstützung beim Kampf gegen Kinderarmut!““
Die Autoren fordern: eine Kindergrundsicherung in Höhe von 600 Euro pro Kind bis zu seinem 27. Geburtstag, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Davon sollten 300 Euro in die Bildung fließen. Außerdem kostenloses Schulessen, mehr Schutz vor Mobbing in sozialen Medien und eine bessere Integration von Geflüchteten.
Dazu spielen sie mit dem Gedanken einer radikalen Veränderung des Sozialsystems. Siggelkow und Büscher schlagen ein „Grunderbe“ vor: An ihrem 18. Geburtstag sollten alle Kinder Deutschlands 20.000 bis 25.000 Euro erhalten, als Investition in ihre Zukunft. Finanziert werden sollte das über eine Erbschafts- und Vermögenssteuer. Das würde zu einer Umverteilung führen, die sich politisch vermutlich so kaum durchsetzen ließe. „Wir wollen eine breite Diskussion anstoßen, auch mit kontroverse Ideen“, sagt Pressesprecher Büscher.
Anders als viele andere Hilfseinrichtung suchen die beiden Autoren gezielt die Öffentlichkeit, gehen in Talkshows, schreiben Bücher. „Wir wollen der Armut ein Gesicht geben, die Kinder stark machen, damit sie sich nicht schämen für ihre Herkunft und selbst herausschreien, was sie brauchen“, sagt Büscher.
Unterstützung für die Arche durch die Stiftung Stern
Die Stiftung Stern unterstützt seit 15 Jahren die Arbeit der Arche. In Kooperation mit der Stiftung RTL fördert sie seit 2022 ein neues, wichtiges Projekt: Intensiv-Lerncoaching. Die wochenlangen Schulschließungen während der Coronapandemie haben vor allem bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien große Lernlücken hinterlassen. Bei dem Projekt an Brennpunktschulen betreut eine pädagogische Fachkraft Kinder einzeln oder in kleinen Lerngruppen.
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Sie holen dabei nicht nur Stoff in Deutsch, Mathe oder Englisch nach, sondern entwickeln auch mehr Selbtsbewusstsein. Denn viele dieser Kinder werden mit dem Selbstbild groß: Du schaffst es nicht! Du bist nicht gut genug!
859.000 Euro Spenden kamen für das Projekt zusammen. Davon können bisher Stellen für Lerncoaches an Grundschulen in Berlin, Potsdam, Osnabrück, Herne und Meißen finanziert werden.
Die Arche expandiert weiter, noch in diesem Jahr soll das nächste Haus in Bremerhaven eröffnet werden. Ein Erfolg? Ja und nein – denn eigentlich dürfte es eine Einrichtung wie die Arche in einem reichen Land wie Deutschland gar nicht geben.