Der ehemalige SPD-Vorsitzende warnt im Beitrag für den stern: Im Falle einer Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten kann sich Europa nicht mehr auf den US-Schutzschirm verlassen – wir müssen eigene nukleare Fähigkeiten ausbauen.
Im November finden in den USA die nächsten Präsidentschaftsahlen statt. Donald Trump, der schon einmal Präsident war, hat gute Chancen, ins Weiße Haus zurückzukehren. Auf uns, aber vor allem auf die Bürgerinnen und Bürger der USA, kämen dann stürmische Zeiten zu.
Donald Trump würde zuerst einen Rachefeldzug gegen alle seine politischen Gegner in den USA führen – auch in der eigenen Partei – und er würde wohl alle staatlichen Institutionen mit Personen besetzen, die ihm absolute Treue schwören. Die amerikanische Demokratie stünde vor einer sehr großen Bewährungsprobe. Aber natürlich würde sich Trump auch wieder seinen „zweitliebsten Gegnern“ in der Handelspolitik zuwenden – und das sind China und wir Europäer.
Trump reduziert die Nato auf das Niveau einer Söldnerarmee
Seine Satz „Europa ist genauso schlimm wie China – nur kleiner“ sollte uns noch in Erinnerung sein. Und so wie für ihn die internationale Wirtschafts- und Handelspolitik ein Nullsummen-Spiel ist, bei dem er immer nur in der Kategorie des „Deal-Making“ unter dem Motto „gibst Du mir etwas, gebe ich Dir etwas“ denkt, so glaubt er auch nicht an den Mehrwert einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wo die Nato sich als politisches Bündnis westlicher Demokratien versteht, die einerseits Sicherheitsgarantien für alle ihre Mitgliedsstaaten abgibt, aber andererseits dadurch natürlich auch die Macht ihrer militärischen Führungsnation – den USA – in der Welt multipliziert, reduziert Donald Trump dieses Verteidigungsbündnis auf das Niveau einer Söldnerarmee, die nur dann kommt, wenn man sie bezahlt.
Mal abgesehen von dem Flurschaden, den er damit in Europa hinterlässt, schwächt Donald Trump damit auch die Stellung der USA in der Welt, denn im 21. Jahrhundert werden auch die Vereinigten Staaten von Amerika Allianzen und Bündnisse benötigen, um die Welt im Gleichgewicht zu halten.
Wir sind als Europäer nur unter größten Mühen in der Lage, uns auf einen Schutz des internationalen Schiffsverkehrs und Seehandels im Roten Meer gegen die Banditen zu einigen, die aus dem Jemen mit Raketen die zivile Schifffahrt bedrohen. Und das, obwohl gerade wir wirtschaftlich von der „Freedom of Navigation“ ganz besonders profitieren.
Wie wollen wir die atomare Abschreckung Russlands sicherstellen?
Ich kann derzeit nicht erkennen, dass wir auch nur ansatzweise eine Antwort auf die noch viel schwierigere Frage haben, wie wir eigentlich die atomare Abschreckung Russlands sicherstellen wollen, wenn in den USA ein Präsident regierte, der diesen nuklearen Schutzschild der USA für die Nato und für Europa infrage stellt.
Es bräuchte jetzt eine große strategische Offensive Deutschlands und Frankreichs, am besten zusammen mit den Briten, wie wir diese Fragen beantworten wollen. Dazu gehört auch zu klären, wie wir die Ukraine unterstützen, wenn eine US-Regierung unter Trump dies nicht mehr tun will. Meine Sorge ist, dass wir die Bedrohung, die davon für Europa ausgeht, immer noch nicht wirklich wahrnehmen. Die Kritik auch aus meiner eigenen Partei, die sich gegen diejenigen richtet, die mehr Unterstützung für die Ukraine fordern wie der ehemalige Bundespräsident Gauck, ist ein erschreckendes Beispiel dafür.
Die eigene Freiheit nicht durch andere bedrohen lassen
Die Zeitenwende hat nur in den Köpfen weniger Politiker stattgefunden, aber nicht in unserer Gesellschaft. Dem Friedensnobelpreisträger und damaligen SPD-Bundeskanzler Willy Brandt war die Verteidigungsfähigkeit seines Landes immerhin drei Prozent des Bruttoinlandprodukts wert. Heute wehrt sich meine Partei bereits gegen zwei Prozent. Verteidigungsfähigkeit beginnt nicht bei der Beschaffung von Waffen, sondern im Willen und im Selbstvertrauen der Zivilgesellschaft, die eigene Freiheit nicht durch andere bedrohen zu lassen. Davon sind wir immer noch weit entfernt.
Wenn Putin sich durchsetzt, bleibt die Frage: Wen überfällt er als nächstes?
Die nächste Bürgergeld-Erhöhung erscheint uns wichtiger als ein freies und selbstbestimmtes Leben unserer Kinder und Enkel. Das aber wird es nicht mehr geben, wenn Wladimir Putin sich mit seinem Krieg gegen die Ukraine durchsetzt. Dann stellt sich nur noch die Frage: Wen überfällt er als nächstes? Das wird ein ganz anderes Europa als das, in dem wir das Glück hatten aufzuwachsen. Angst wird das europäische Leben beherrschen. Und daraus ist noch nie etwas Gutes geworden.
Es braucht jetzt viele Veränderungen, die eher technisch klingen. Rüstungsprojekte müssen vereinheitlicht werden, Investitionen in die Ostflanke der Nato getätigt werden – auch mit Hilfe Deutschlands und nicht nur immer mit Hilfe der USA. Wir brauchen einen europäischen Sicherheitsrat manches anderes mehr. Vor allem müssen wir darüber entscheiden, wie wir den möglichen Verlust der nuklearen Abschreckung durch die USA ersetzen können, um uns von Russlands Führung nicht erpressbar zu machen.
Wir provinzialisieren jeden Tag etwas mehr
Das ist keine einfache Aufgabe und nichts, was über Nacht zu lösen ist. Aber Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas muss diese Debatte vorantreiben und aufhören, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen. Zurzeit provinzialisieren wir jeden Tag etwas mehr. Und der Rest der Welt merkt das und wendet sich von uns ab.
Ich hätte nie gedacht, dass ich darüber mal nachdenken muss. Aber Europa braucht eine glaubwürdige Abschreckung. Dazu gehört eine gemeinsame nukleare Komponente. Der amerikanische Schutz wird absehbar zu Ende gehen, die Debatte darüber, woher der Ersatz kommen soll, muss jetzt beginnen. Wenn wir diese Frage nicht beantworten, werden anderes es tun. Zum Beispiel die Türkei. Das kann nicht unser Interesse sein.