Nahrungsergänzungsmittel: Vitamin D: Wunderstoff im Winter oder gefährlicher Hype?

Ob Krebs, Corona oder Erkältungen: Vitamin D gilt längst als Wunderwaffe gegen allerlei Krankheiten. Dabei gibt es für den Hype keine wissenschaftliche Grundlage, hochdosierten Pillen können sogar gefährlich werden. Sollten wir auf eine Ergänzung verzichten, auch im Winter? Der stern-Faktencheck.

 

Vitamin D ist omnipräsent: Influencer und Nahrungsergänzungsmittelhersteller bewerben den Stoff als Lifestyle- und Wundermittel. Mancher Werbung zufolge scheint es kaum eine Erkrankung zu geben, vor der Vitamin D nicht schützen oder die es nicht heilen könnte. Viele dieser Versprechen sind wissenschaftlich nicht belegt – und bei einigen Vitaminpillen und -tropfen kann es leicht zu einer Überdosierung und schlimmstenfalls zu einer Vergiftung kommen. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Was ist Vitamin D eigentlich?

Vitamin D heißt auch das „Sonnenvitamin“, und das hat einen guten Grund: Unsere Haut enthält eine Vorstufe des lebenswichtigen Stoffs und kann sie mit Hilfe des ultravioletten Sonnenlichts in Vitamin D umwandeln. Weil es der Körper selbst produziert, ist es streng genommen also ein Hormon. Das allerdings wussten jene Forscher noch nicht, die Vitamin D zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten und irrtümlich als das vierte bis dato bekannte Vitamin einstuften. 

Neben der körpereigenen Produktion lässt sich Vitamin D auch mit der Nahrung aufnehmen, wenn auch zu einem geringen Anteil. Denn nur wenige Lebensmittel enthalten nennenswerte Mengen, etwa fettreicher Fisch, mit Abstrichen auch Eigelb und Leber.

Warum brauchen wir Vitamin D? 

Vitamin D fördert die Aufnahme von Mineralien aus der Nahrung und ist daher unerlässlich für den Skelettbau. Ein Mangel kann zu schwerwiegenden Knochenerkrankungen führen: zu Rachitis bei Kindern und Knochenweiche (Osteomalazie) bei Erwachsenen. Darüber hinaus ist Vitamin D an der Immunabwehr und an weiteren Stoffwechselprozessen beteiligt: Herzgesundheit, Blutdruck und Gehirn – sie alle profitieren von einer guten Versorgung. 

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Wie verbreitet ist ein Mangel? 

Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) betrifft der Vitamin-D-Mangel in Deutschland 12,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen sowie 15,2 Prozent der Erwachsenen. Weitere 40 Prozent gelten als „suboptimal“ versorgt. Die zugrundeliegenden Daten beruhen allerdings auf einer mehr als zehn Jahre alten Stichprobenuntersuchung, bei der die Vitaminspiegel im Blutserum tausender Menschen einmalig gemessen wurde. Die Aussagekraft solcher Labordaten ist begrenzt: Niedrige Werte belegen noch keinen langfristigen Mangel und kündigen auch nicht zwingend gesundheitliche Beschwerden an, heißt es beim RKI. Denn die Vitamin-D-Konzentration im Blut schwankt.

So ist es in unseren Breitengraden normal, dass die Werte über den Winter nach unten gehen. „Wir sind in dieser Jahreszeit Vitamin-D-Mangelland“, sagt der Vitaminforscher Hans Konrad Biesalski, emeritierter Professor der Universität Hohenheim. Nur zwischen März und Oktober haben die Sonnenstrahlen genug Kraft, um die Vitamin-D-Produktion der Haut anzukurbeln. Glücklicherweise ist unser Körper auf jahreszeitliche Schwankungen vorbereitet. Leber und Fettzellen speichern Vitamin D für die spätere Verwendung. Wer in dieser Zeit genug Sonne tankt, dessen Körper kann für das Winterhalbjahr ausreichend Reserven anlegen. Doch nicht allen gelingt das. Um festzustellen, ob ein Mangel vorliegt, braucht es einen Bluttest. Dabei wird der 25-Hydroxyvitamin-D-Gehalt (kurz: 25(OH)D) im Blutserum bestimmt. Liegt er beständig unter 30 Nanomol pro Liter Serum, besteht ein Mangel. Menschen mit dunkler Haut, die weniger Vitamin D herstellen können, haben dafür ein höheres Risiko – ebenso wie Ältere, weil die Produktionskraft der Haut mit den Jahren nachlässt.

Sind Vitamin-D-Pillen oder -Tropfen also ein Muss?

Für die meisten Menschen nicht. Eine wichtige Ausnahme aber sind Babys: Direkte Sonnenbäder kommen für sie nicht in Frage, deshalb sollten Säuglinge bis zu ihrem zweiten Frühsommer jeden Tag 400 bis 500 Internationale Einheiten (IE) Vitamin D erhalten. Das sind 10 bis 12,5 Mikrogramm. 

Für ältere Kinder und Erwachsene schätzt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) den Bedarf auf 800 IE (20 Mikrogramm) – aber nur bei fehlender körpereigener Produktion. Diana Rubin, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin, bemängelt, dass dieser Zusatz in der Öffentlichkeit zu oft unter gehe. Stattdessen herrscht der Eindruck vor, alle Menschen sollten auch ohne Anlass zumindest im Winter Vitamin D zuführen. „Da ist ein riesiger Hype entstanden, der bis heute ungebrochen ist“, kritisiert Rubin. Tatsächlich gebe es nur wenige Menschen – wie bettgebundene Pflegebedürftige –, bei denen die körpereigene Produktion mangels Sonnenlichts gänzlich ausfalle. Das Fazit der Ärztin: „Es gibt keinen Bedarf, Vitamin D regelmäßig zuzuführen, außer bei einem nachgewiesenen Mangel oder bei Osteoporose.“ Tatsächlich ist die Vitamin-D-Zufuhr bei der Knochenkrankheit fester Bestandteil der ärztlichen Leitlinien.

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Andere Experten sind beim Umgang mit Vitamin D im Alltag weniger streng, gerade im Winterhalbjahr. „Es spricht nichts gegen eine Zufuhr von 800 Einheiten täglich“, sagt der Ernährungswissenschaftler Biesalski: „Das ist als präventive Maßnahme vor allem im höheren Alter ideal.“ Fazit: Ein Risiko entsteht Gesunden dadurch nach heutigem Wissen nicht. Ob es Ihnen jedoch nutzt, ist unklar.

Schützt eine Vitamin-D-Zufuhr vor Krankheiten? 

Diese Hoffnung wecken Bücher, Werbungen und Social-Media-Beiträge zwar, die Studienlage gibt dies jedoch nicht her. Zahlreiche klinische Studien fanden keinen präventiven Nutzen einer Vitamin-D-Zufuhr gegen Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen, Typ-2-Diabetes, Inkontinenz, altersbedingte Makuladegeneration, Atemwegsinfekte, Depression und vieles mehr. Auch einen positiven Effekt auf das Wachstum von Kindern, die Herzfunktion oder die körperliche und geistige Leistungsstärke zeigte sich nicht. „Eine generelle Empfehlung zur Vitamin-D-Supplementierung zur Vorbeugung von Erkrankungen ist auf Basis der derzeit vorhandenen wissenschaftlichen Daten nicht begründbar“, schreibt daher auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). 

Wie aber wirkt sich die Extradosis Vitamin D aus, wenn Menschen bereits krank sind? Eine Reihe von Studien zeigte, dass Krankheiten wie Krebs, Atemwegserkrankungen und COVID-19 regelmäßig schwerer verlaufen, wenn der Vitamin-D-Spiegel niedrig ist. Liegt darin auch der Grund für schlechtere Heilungsaussichten? Nein, so einfach ist es nicht. Die Zusammenhänge sind bisher nicht belegt, eine schlechte Vitamin-D-Versorgung könnte auch die Folge von Vorerkrankungen oder Symptom eines insgesamt ungesunden Lebensstils sein: Wer sich schlecht ernährt und wenig Bewegung an der frischen Luft hat, der trägt auch ganz unabhängig vom Vitamin-D-Spiegel ein höheres Risiko für schwere Krankheitsverläufe. 

Klar ist: Ein echter Vitamin-D-Mangel sollte immer ausgeglichen werden. Aber auch dann nicht nach dem Motto: „Viel hilft viel“. Das BfR warnt sogar deutlich vor den Risiken einer zu hohen Aufnahme, insbesondere durch hochdosierte Nahrungsergänzungsmittel. 

Was passiert bei einer Überdosis Vitamin D? 

Eine deutlich erhöhte Aufnahme über einen längeren Zeitraum kann schädlich und sogar lebensgefährlich sein. Die Folge einer Vitamin-D-Vergiftung ist ein erhöhter Kalziumspiegel im Blut (Hyperkalzämie), mitunter begleitet von Übelkeit und Bauchkrämpfen. In schweren Fällen kann es laut RKI zu Nierenschädigungen, Herzrhythmusstörungen, Bewusstlosigkeit und Tod kommen. Aufgrund dieser Risiken empfiehlt das BfR für Nahrungsergänzungsmittel eine Höchstmenge von 20 Mikrogramm (800 IE) pro Tagesdosis. Viele Produkte aus Onlineshops, aber auch aus Drogerie- und Supermärkten, sind jedoch höher konzentriert. 

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„Ich sehe häufig Blutwerte, die zu hoch sind – fast immer, weil die Patienten Nahrungsergänzungsmittel einnehmen“, sagt Diana Rubin, die das Ernährungsteam am Berliner Vivantes-Klinikum leitet. 

Warum warnen Experten vor dem Coimbra-Protokoll?

Manch ein Patient schwört auf hoch dosiertes Vitamin D gegen Multiple Sklerose und nimmt deshalb exzessiv hohe Dosen ein. Vor allem im Internet verbreitet sich das Konzept, das als „Coimbra-Protokoll“ bekannt wurde. Doch dabei ist Vorsicht geboten. Das nach seinem Erfinder, dem brasilianischen Arzt Cicero G. Coimbra, benannte Konzept geht davon aus, dass die Ursache von Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose in einer Vitamin-D-Resistenz liegt, die nur durch eine (ärztlich begleitete) ultrahochkonzentrierte Zufuhr von zumindest 20.000 IE, teilweise bis zu 150.000 IE am Tag überwunden werden kann. Dafür aber wie überhaupt für den Nutzen einer Supplementation bei MS-Patienten ohne Vitamin-D-Mangel gibt es keinen Beleg. 

Stattdessen warnen Experten vor den Risiken von Ansätzen wie dem Coimbra-Protokoll. Erst im vergangenen Jahr meldete die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft den Fall eines 65 Jahre alten MS-Patienten, der nach Einnahme von täglich 60.000 IE Vitamin D über ein halbes Jahr ein akutes Nierenversagen entwickelt hatte. „Unter serösen Medizinerinnen und Medizinern, in MS-Zentren und MS-Ambulanzen spielt das Coimbra-Protokoll keinerlei Rolle. Im Gegenteil: Wir warnen unsere Patienten andauernd aktiv vor Hochdosis-Vitamin-D-Behandlungen“, sagt der MS-Spezialist Christoph Kleinschnitz, Direktor der Neurologie am Universitätsklinikum Essen. „Leider müssen wir das auch, weil derartige Therapieversprechen in der Patientencommunity, gerade über die sozialen Medien, sehr starke Verbreitung finden und einige schwarze Schafe unter den Ärzten ihr Übriges dazu leisten.“ Kleinschnitz‘ Rat zum Coimbra-Protokoll: „Finger weg“. 

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